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Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Titel: Alles auf Anfang: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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klug und so romantisch! Diese Leute verstehen mich, weil sie denken, wie ich denke, mich besser wahrnehmen als zum Beispiel Gina, die letztendlich doch auch nur eine reiche Tante ist, der ich aber dennoch vertraue, weil sie etwas Junges an sich hat, etwas ... Furchtloses, Unverzagtes, Couragiertes!
    Alle finden mich süß.
    Ist sie nicht süß, unsere Ottilie?
    Dabei bin ich das gar nicht.
    Ach Tommy, wenn du nur bei mir wärest. Bist zwar ein ziemlicher Doofkopp, so wie du dich von allen in der Schule behandeln lässt und hältst dich für einen richtig Klugen und bist es wahrscheinlich auch, aber andererseits bist du auch so schrecklich dünn und hast so viele Pickel, dass man dich am liebsten in den Arm nehmen und beschützen möchte – jedenfalls möchte ich das so! Obwohl du’s besser hast als ich – immerhin redet man mit dir wie mit einem Menschen, der Verstand hat.
    Dann werde ich wütend auf dich, weil ich nicht verstehen kann, dass man dich mir vorzieht. Du kannst tun, was du willst, wohingegen ich immerzu gefordert werde.
    Niemals fragt mich jemand danach, was ich mir wünsche? Ob ich mir das oder jenes vorstellen könne? Wie denn meine Meinung hier oder dazu sei ...? Ottilie fragt man nicht, Ottilie bekommt Anweisungen.
    Ich weiß, ich weiß ...
    ... meine Eltern meinen es gut mit mir. Schließlich hatten sie’s auch nicht leicht im Leben. Und mir mangelt es ja an nichts.
    Dennoch macht mich die Bevorzugung meines Bruders zornig.
    Und während ich zornig bin, werde ich traurig, weil ich dieses beschissene Wut auf dich, lieber Tom – jetzt habe ich das böse S-Wort doch noch gesagt! –, nicht haben will. Schließlich kannst du ja auch nichts dafür. Stellst dich halt nur besser an und weißt, was du tun musst, damit es dir gut geht.
    Ich bin ein ungehorsames Mädchen, sagt Mama oft.
    Ein unanständiges Mädchen.
    Und sie hat Recht.
    Zum Beispiel weil ich auf dem Dachboden stöberte, was mir und Tom streng verboten ist, weil wir alles durcheinanderbringen.
    Und da oben auf dem Dachboden fand ich Papas Geheimnis, oh lieber Gott! Wenn Mama mich erwischt hätte, hätt’s was gesetzt, und wie! Da ist Mama genauso korrekt wie mit ihren Staubkörnern und ihren Bratkartoffeln und den Bierflecken auf dem Holz und allem. Strafe muss sein!
    Was da in der Zigarrenkiste lag, hat nichts mehr mit duftendem Spüliwasser zu tun, sondern mit Blut und Schießerei und mit Verlust, Verrat und Schuld. Es ist Papas Lügenleben!
    Ich träume davon, bekomme es nicht aus dem Kopf und weine oft deswegen. Manche Stunden bin ich irgendwie – nicht in mir, sondern draußen ... wo ich mich nicht fühle, neben mir stehe, mich von außen betrachte, wo alles ohne Schmerzen ist und mich dazu befähigt, meine Arme blutig zu schneiden, ohne etwas davon zu spüren, obwohl ich das an und für sich ekelhaft finde und billig und dumm. Das mag bescheuert klingen, aber anders kann ich’s nicht erklären und vielleicht ist ja auch alles ganz anders.
    Manchmal fühle ich mich wie ein kleiner Indianer: Mit diesen Klebebildchen, diesen billigen, wunderschönen Bildern, diesem Funkeln der Schönheit, kann man mir die ganze Welt versprechen. Gehe ich zugrunde, nur weil man mir Glasperlen verkauft hat?
    Du sollst nicht lügen, heißt es. Aber niemand hält sich daran.
    Wenn du klein bist, bildest du dir gerne ein, alles zu wissen. In Wahrheit willst du gar nicht so viel wissen. Was du wirklich willst, ist, dass die Erwachsenen dafür sorgen, dass die Welt ein sicherer Ort ist, wo Träume wahr werden und nie ein Versprechen gebrochen wird.
    Ist das zu viel verlangt?
    Verlangte ich zu viel?
    Wenn du dann älter geworden bist, willst du alles wissen und merkst, dass Träume nicht so ohne Weiteres wahr werden, es sei denn, man schafft sie sich selbst. Und dass es nicht ohne gebrochene Versprechen geht.
    Habe ich das endlich begriffen?
    Ich glaube, jedes Kind nimmt die Liebe an, die es bekommen kann. Ich nehme jede Liebe an.
    Und wer ist ich?
    Ich bin nicht Ottilie!
     
     

8
     
    Endlich werden sie ihr abschließendes Urteil fällen!, denkt Cemir und legt die Papierblätter übereinander, auf denen er die Worte, die er sagen wird, weil man sie von ihm erwartet, in deutscher Sprache skizziert hat. Die da draußen brauchen diese Endgültigkeit, eine unumstößliche Besiegelung jener Sache, die ihnen nicht geheuer ist, damit ‚der Türke‘, wie Cemir von der Presse genannt wird, in sein Schicksal entlassen werden, damit man sich wieder um wichtige

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