Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Titel: Alles auf Anfang: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
Vom Netzwerk:
Dinge kümmern kann. Vor zwei Jahren geschah die Sache mit Steiger Schotterbein, man will den Vorgang vom Tisch haben, auch wenn’s schon fast vergessen ist. Derzeit passt alles politisch gut ins Kalkül, also rupft man es wie eine magere Gans, deren Fleisch nicht mal ein Baby sättigen würde.
    Vor dem kleinen Zimmer, in dem Cemir sich vorbereitet, warten eine Handvoll Presseleute, die Polizei und unzählige Schaulustige. Am Haus parken die dunklen Limousinen der Ruhr-Kohlen-AG, die ihre Beobachter geschickt hat, zwei von denen werden Gewichtiges zu sagen haben.
    Noch etwa zehn Minuten hat Cemir Zeit, bis er an der Reihe ist, bis er den größten Auftritt seines Lebens hat. Er tritt an das Fenster.  Auf der gegenüberliegenden Straßenseite haben sich einige Kumpels, vorrangig türkische, postiert, die keinen Einlass mehr gefunden haben. Sie rauchen, gestikulieren, reden.
    Cemir hasst Politik ... nein, falsch! Er hasst es, im Namen der Politik benutzt zu werden.
    Und er schließt seine Augen.
    Er erinnert sich, wie es zu diesem Tag kam:
    An besagtem Samstag.
    Samstagabend im Sommer 1966 gab es nur ein Thema - das  Fußballspiel und dass dieser englische Schiedsrichter Deutschland den Sieg genommen hatte! Überall dieselben Sprüche und Flüche, in der Kaue, während der Seilfahrt, am Schacht, unten auf der 4. Sohle, am Personenbahnhof, 3500 Meter weiter am Blindschacht und am Flöz, wo der Schießmeister bereits seinen Kram aufbaute. Viele Kumpels stanken nach Alkohol, guckten aus übermüdeten Augen und husteten sich die Seele aus dem Leibe, weil man am Nachmittag zu viel geraucht und gesoffen hatte. Es wurde so aufgeregt diskutiert, dass kaum jemand das feine Knistern wahrnahm, das den Berg durchzog, als schüttele auch der sich ob des Fußballergebnisses. Es war vermutlich nichts anderes als eine Verschiebung von Gesteinsplatten. Nichts Bedeutendes.
    Alles war wie immer!
    Der Dynamo plärrte, die Luftlampe jaulte, schon nach einer halben Stunde rann der Schweiß, die Haut war verstaubt und juckte, die Zunge war trocken und die Versuchung, den Tee mit einem, zwei großen Schlucken zu leeren, war übermächtig.
    Alles war wie immer!
    Steiger Schotterbein kam daher, den Steigerstock unter der Achsel wie ein britischer Aristokrat, der seine Leibeigenen auf dem Baumwollfeld inspiziert. Und Cemir tastete nach dem Dolch, den er in sein Schweißtuch eingewickelt hatte. Schotterbein schleuderte seine Anweisungen und nahm eine Prise Schnupftabak aus einer Dose, die das Grubenlicht reflektierte.
    Die Kumpels traten zur Seite, als die Akku-Lokomotive vorbeifuhr, auf Schienen, die wackelten und schoben, dass es einem angst und bange werden konnte.
    Niemand wollte in den niedrigen Bruch hinein, also beorderte Schotterbein – wie konnte es anders sein! – Cemir da rein, wo es nur hüfthoch war, bröselig, bedrohlich und gut geeignet für Dynamit, das eine neue Kohlenader freilegen und Raum schaffen könnte für die Abbauramme. Cemir beugte sich dem Befehl, zog das Schießkabel hinter sich her und beschloss, seinen Plan jetzt und hier in die Tat umzusetzen. Er würde Schotterbein töten. Alleine. Von Angesicht zu Angesicht. Ohne Zeugen.
    Er tat eine Weile so, als inspiziere er das Terrain, dann rief er nach dem Steiger, immerzu, bis Schotterbein zwar gegen den Lärm der Maschinen anfluchte, sich jedoch einen Ruck gab und gebeugt in den Gang krabbelte. Feiner Kohlenstaub rieselte vom Hangenden, der Schießmeister bellte eine Anweisung hinter Schotterbein her, der sich erzürnt umblickte. »Leck mich Makollek! Warte, bis ich wieder zurück bin!« Er blitzte Cemir an. »Was willst du, Kümmelmann? Warum rufst du mich hier in diese Scheiße rein?«
    Cemir lächelte ein sanftes Allaha ismarladik und wusste binnen Sekunden, dass Schotterbein das Unverhüllte durchschaute. Er sah es am Blick des Mannes, an dem Grausen, das darin aufblitzte. Schotterbeins schmale Lippen bewegten sich, als murmele auch er einen Abschiedsgruß. Als könne er seinen Intuitionen nicht trauen, als sträube sich etwas in Schotterbein gegen seinen haarsträubenden Verdacht, sagte er: »Was soll das Sülzwurst? Was hast du vor?«
    War es das genugtuende Lächeln in den Mundwinkeln des Türken, war es dessen nahezu mitfühlender Blick? Ohne eine Antwort abzuwarten, warf der Steiger sich herum, eine spontane Bewegung, panisch, angsterfüllt und verdrehte sich dabei das Bein, knickte ein, heulte auf vor Schmerz, stürzte und starrte zu Cemir hoch, der, sein

Weitere Kostenlose Bücher