Alles auf Anfang
mein Hemd berührten. Ich schloss die Augen und wartete. Der von ihm ausgehende Raubtiergestank, das leise Schnurren seines Atems, die schiere Kraft, die er verkörperte - ich war bereit. Ich kniete auf dem Gehweg nieder, dort unter der Queensboro Bridge, und der Atem des Löwen war heiß wie Dampf in meinem Ohr.
Als ich die Augen aufschlug, war der Löwe fort, und ich zitterte in der Augusthitze. Ich hielt ein Taxi an und ließ mich von dem turbantragenden Fahrer zum Frick Museum bringen, aber als ich dort ankam, waren die Türen der Villa des skrupellosen alten Kapitalisten verriegelt. Es war Montag, wie mir einfiel. Das Museum war geschlossen. Deshalb war Butchko zu Hause. Es war der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für einen Montag, und ich stellte mir vor, dass von nun an jeden Tag Montag wäre, dass wir monatelang nur Montage hätten, dass die Büroangestellten Tag für Tag aufstehen und nie dem Wochenende näher kommen würden,
sie würden jeden Morgen in die Zeitung schauen und stöhnen, und die Kirchgänger würden feststellen, dass sie einen Tag zu spät dran waren für den Sonntagsgottesdienst.
Ich brauchte Bellinis Franziskus. Ich musste neben dem jungfräulichen Heiligen stehen und die Ekstase erleben, die Verzückung spüren, die durch meine Hände, meine Füße eindrang. Ich musste die Sprache der Tiere verstehen, die Worte der wilden Tiere, denn als der Löwe mir ins Ohr flüsterte, klang es lediglich wie der Atem einer großen Katze. Ich brauchte eine Übersetzung.
Ich legte den ganzen Heimweg zu Fuß zurück. Das Haus war leer, alle Uhren tickten feierlich, bis sie, innerhalb einer einzigen furchterregenden Sekunde, unisono die volle Stunde schlugen. Wenn mein Vater in Afrika war, zog ich die Uhren nicht auf; in jedem Zimmer zeigten ihre toten Zeiger dann die Minute an, in der das Pendel zu schwingen aufgehört hatte. Er synchronisierte sie immer an dem Tag, an dem er heimkam.
In meinem Zimmer nahm ich die Abdeckungen von Objektiv und Okular und inspizierte die Wohnungen auf der anderen Straßenseite. Der alte Mann lehnte auf seinem Fensterbrett und blickte Richtung Harlem. Der Rothaarigen im Stockwerk unter ihm schien es besser zu gehen; sie lag bäuchlings, auf die Ellbogen gestützt, auf ihrem Teppichboden, kaute an einem Bleistift, noch immer mit dem Kreuzworträtsel der Sonntagszeitung beschäftigt. Hinter ihr, im Fernseher, knutschte Marlon Brando mit Eva Marie Saint. Die Rothaarige schaltete den Fernseher nie aus: weder wenn sie bei der Arbeit war noch wenn sie schlief. Ich konnte es verstehen - Stimmen trösteten sie, sogar die Stimmen von Fremden.
Die Rothaarige war mit dem Kreuzworträtsel fertig und fing an, ihre Antworten mit den Lösungen in der Montagszeitung zu vergleichen. Auf dem Fernseher hinter ihr leuchtete ein Schriftband auf: EILMELDUNG. Ein Reporter mit Safarihut und Sonnenbrille begann in sein Mikrofon zu sprechen, auf die Menge um ihn herum zu deuten. Ich versuchte, von seinen Lippen zu lesen. Als mir das langweilig wurde und ich das Fernrohr schon weiterbewegen wollte, sah ich den Löwen, meinen Löwen, in die Kamera blicken. Er saß neben einem Springbrunnen, einem großen runden Springbrunnen, auf dem oben, über dem Wasserbecken, ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln stand.
Ich rannte los. Die Treppe hinunter, zur Haustür hinaus, auf der 84. Straße Richtung Westen, wich dem Straßenverkehr aus, raste über die Avenues - York, First, Second, Third, Lexington, Park, Madison und Fifth -, hinein in den Central Park, keuchend, während mir der Schweiß in die Augen lief. Den ganzen Weg bis zum Bethesda Fountain, mindestens eine Meile, weiter, als ich seit Jahren gerannt war. Als ich dort ankam, dehnte sich die Menge bis hinten zum Musikpavillon aus, der mehrere Hundert Meter vom Springbrunnen entfernt war. Ein Mann mit einem fahrbaren Stand verkaufte italienisches Eis und Limonade. Ein Nachrichtenhubschrauber kreiste über uns.
Ich drängte und schlängelte mich nach vorne durch, ignorierte die bösen Blicke, das geraunte He, Pass-doch-auf und Was-soll-das. Blauen Sägeböcken ähnelnde Polizeiabsperrungen verbarrikadierten den Weg, alle zehn Schritte stand ein Polizist. Zwei geschwungene Steintreppen, flankiert von Balustraden, führten hinunter auf die Terrasse. Der
Löwe saß geduldig neben dem Engelsbrunnen. Hinter ihm lag der See, wo normalerweise Tretboot fahrende Touristen die Büsche fotografierten und miteinander zusammenstießen und in den Sprachen aller
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