Alles auf Anfang
bezahlte, sagte sie zu ihm: »Ich hoffe, dass ich Sie nie wütend mache, Bonner.«
Mein Vater las weiter die Faxe durch, und ich sagte noch einmal: »Er hat mir zugezwinkert. Der Löwe. Er hat mir in die Augen geschaut und dann gezwinkert, und dann ist er weggegangen.«
Mein Vater nahm die Brille ab und hängte sie an einem Bügel in den Ausschnitt seines Unterhemds. Er rieb sich kurz den Nasenrücken und lachte dann.
»Alle Säugetiere blinzeln, Mackenzie. Das verhindert, dass ihre Augäpfel austrocknen.«
»Gezwinkert, nicht geblinzelt. Er hat mir zugezwinkert.«
Ein trauriges Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er mich betrachtete. Das Lächeln für Mackenzie, der Ausdruck, den er nur für mich parat hielt. Folgendes muss man über meinen Vater wissen: Er war ein Mann, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Tiere zu töten, obwohl er Tiere verehrte und Menschen verachtete. Aber ich war der Sohn seiner großen Liebe, und das dispensierte mich von seiner Verachtung, dispensierte mich von dem kühlen Blick des Jägers, mit dem er alle Übrigen bedachte. Seine Einstellung zur Welt war alles andere als nachsichtig, doch bei mir war er nachsichtig.
In den darauffolgenden fünf Tagen sah niemand den Löwen. Experten für wild lebende Tiere spekulierten im Fernsehen über sein Verschwinden und stellten Vermutungen über seinen Aufenthaltsort an, aber niemand wusste etwas. Mein Vater traf sich mit dem Polizeipräsidenten und dem Bürgermeister, um die Jagd zu koordinieren. Er inspizierte die Orte, an denen der Löwe gesehen worden war, und studierte sorgfältig alle Augenzeugenberichte. In den knappen Interviews,
die er sorgfältig ausgewählten Vertretern der Presse gab, forderte er die Öffentlichkeit auf, weiterhin Vorsicht walten zu lassen. Er war überzeugt, dass der Löwe noch auf der Insel Manhattan war.
Sechs Tage nachdem ich den Löwen zum ersten Mal gesehen hatte, an einem schwülen Nachmittag - einem von der Art, an dem sich alles nass anfühlt, als würde sogar die Stadt selbst schwitzen -, rief Butchko an und lud mich ein, ihn zu besuchen. Ich hatte vergessen, dass ich ihm meine Nummer gegeben hatte, und zuerst widerstrebte es mir, in der grässlichen Augusthitze bis hinunter in die Delancey zu gehen. Aber ich hatte nichts Besseres vor, und ich war neugierig, einen Blick in sein Einhundertfünfzig-Dollar-Apartment zu werfen.
Ich traf ihn auf den Eingangsstufen seines Wohnhauses. Bevor ich etwas sagen konnte, legte er den Finger an die Lippen und bedeutete mir, mich zu ihm zu setzen. Aus dem offenen Fenster der Erdgeschosswohnung drang der hysterische Dialog einer mexikanischen Telenovela. Ich ließ die Sprache über mich hinwegfluten, die rollenden R, die Sätze, die sich alle zu reimen schienen. Alle paar Minuten erkannte ich ein Wort und nickte. Loco! Cerveza! Gato!
»Te quiero« , sagte Butchko, der während einer Werbepause die Aussprache übte. »Te quiero, te quiero, te quiero.«
»Du sprichst Spanisch?«
»Ich lerne es gerade. Gregory Santos hat gesagt, Zweisprachigkeit ist einer der sieben Schritte zum totalen Erschauern.«
Zweisprachigkeit? »Was ist das totale …«
Die Seifenoper begann wieder, und Butchko wies mich an, still zu sein. Wir hörten zu, wie ein Mann mit rauer Stimme
eine verzweifelte Frau beruhigte. Anschwellende Violinen und Celli schienen ihre Versöhnung zu signalisieren, und ich stellte mir den Kuss vor, die Frau mit geschlossenen Augen, Tränen des Glücks auf den Wangen, als der geheimnisvolle stattliche Mann sie in seine Arme schließt. Butchko nickte feierlich.
Als die Folge endete, führte er mich in das Haus und eine schlecht beleuchtete Treppe hinauf, wobei er mich auf diverse Hindernisse aufmerksam machte, denen es auszuweichen galt: ein Schuhabdruck aus Hundedreck, ein Spielzeugauto, Glasscherben. Am Ende der letzten Treppenflucht stieß er eine mit Graffiti besprühte Tür auf und führte mich auf das mit Teerpappe belegte Dach. Neben einem Wassertank auf hohen Stahlbeinen stand ein geschindeltes Taubenhaus.
»Bist du oft hier oben?«, fragte ich.
»Ich wohne hier«, sagte er, machte die Tür hinter mir zu und sperrte sie mit einem Kombinationsschloss ab. »Schau«, sagte er und deutete hin. »Das ist ein Taubenhaus.«
»Ich weiß, dass das ein Taubenhaus ist.«
»Frag mich mal, warum es zwei Türen hat.«
Das Taubenhaus war fensterlos und niedrig, schmal und lang, aus grauen verwitterten Brettern zusammengenagelt. Risse im Holz waren mit
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