Alles auf Anfang
zog ich drei blaue Splitter aus meinen Handflächen. Es dauerte eine Weile, bis mir dämmerte, dass sie von der sägebockartigen Polizeiabsperrung am Bethesda Fountain stammten. Nach der Dusche
trocknete ich mich ab, zog meinen Schlafanzug an, stieg die Treppe zu meinem Zimmer hinauf, sperrte die Tür hinter mir ab und schaltete das Licht aus. Ein fahler Mond schien schwach durch das geriffelte Glas. Ich versuchte mich zu erinnern, wie viele Kilometer der Mond entfernt war, wie viele kalte Kilometer ich durch den Himmel würde klettern müssen. Es erschien mir unmöglich, dass Menschen ihn jemals betreten hatten, jemals in seiner geringen Schwerkraft herumgehüpft waren.
Als ich jünger war, hatte ich die Zahl gewusst, seine Entfernung auf den Kilometer genau gewusst. Ich hatte seinen Durchmesser gewusst, sein Gewicht in Tonnen, die Namen seiner wichtigsten Krater, die exakte Dauer seines Umlaufs um die Erde. Ich hatte alles vergessen.
Ich nahm die Abdeckungen von General Earlys Fernrohr und inspizierte die gegenüberliegenden Wohnungen. Was immer der alte Mann auch in Harlem suchen mochte, für heute hatte er Schluss gemacht - die Lampen waren alle aus und die Jalousien heruntergezogen. Der kleine Junge war noch wach. Er saß mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke - seinem Ein-Junge-Zelt - und las heimlich, während er eigentlich schlafen sollte.
Ich kontrollierte die anderen Zimmer bei meiner üblichen Suche nach einem Feuer, und an diesem Abend wurde ich fündig. Nicht in der Wohnung des Jungen, sondern einen Stock tiefer, wo Kerzen auf den Stereolautsprechern und Bücherregalen brannten, auf dem Couchtisch und dem ausgeschalteten Fernseher, auf dem Fensterbrett und dem Kaminsims. Die Rothaarige saß nackt rittlings auf einem Mann, der auf ihrem Sofa lag, die Hände auf seine schmalen Schultern
gestützt. Im Kerzenlicht war ihre Haut mit kupferfarbenen Schweißspuren überzogen. Sie hob und senkte sich wie eine Boje im Meer, die in den Wellen tanzt. Bevor ich mich abwandte, um die beiden ungestört zu lassen, warf die Frau den Kopf zurück und erstarrte einen Moment lang, und ihre Hände, die Finger weit gespreizt, ließen Butchko los. Ihr Mund öffnete sich, aber ich bin überzeugt, dass keine Worte herauskamen, nein, keine Worte, nur pure Ekstase.
BARFUSS IM KLEE
1 Als ich sechzehn war, stahl ich ein mitternachtsblaues 1955er Eldorado-Cabriolet und fuhr für den Nachmittag nach Hershey Park. Dabei hatte ich gar nicht vor, in Hershey haltzumachen - kein Mensch flüchtet aus New Jersey nach Pennsylvania. Geplant - geplant!, als hätte ich das Ganze im Voraus ausgetüftelt - war, zwei Tage bis Kalifornien durchzufahren, Benzin und Kartoffelchips mit der Kreditkarte meines Vaters zu bezahlen, nicht eher zu schlafen, bis ich den Pazifik durch die Windschutzscheibe glitzern sah. Dann kriegte ich Schiss. Ich hatte zwar den Mumm wegzugehen, aber nicht den Mumm wegzubleiben.
Doch sieben Stunden lang war ich der König der Landstraße. Hinter mir durchschnitten die haifischartigen Heckflossen die Luft; aus dem Kassettendeck kam London Calling, wieder und immer wieder; am Rückspiegel schaukelte eine Figur der Jungfrau Maria, die Augen demütig oder bestürzt niedergeschlagen. Ich hatte den Cadillac einem Katholiken namens Tommy Byrnes Jr. gestohlen, der zwei Klassen über mir war. Als Tommy an diesem Morgen vor Unterrichtsbeginn auf dem Parkplatz ankam, scharten sich eine Menge Jungs um den Wagen, sagten Irre! und Klasse! und Super!. Es war ein Furcht einflößender Schlitten, der Kühlergrill ein Maul
voll chromblitzender Zähne. Er sah aus wie der Schrecken der Schnellstraßen, begierig darauf, schwächere Autos zur Strecke zu bringen und zu verschlingen.
Ich wollte ihn haben. »Tommy, lass mich nur ein Mal damit um den Block fahren.«
Er lachte gezwungen. »Du hast ja nicht mal den Führerschein.«
»Aber du. Wenn du mitfährst, darf ich als Fahrschüler ans Steuer.«
Schon damals, im zweiten Highschool-Jahr, war ich der Größte und Stärkste in der Schule, linker Außenstürmer in der zweiten Football-Mannschaft von New Jersey. Ich bekam handgeschriebene Briefe von Trainern aus der ersten College-Football-Liga. An der Mahlus High waren alle sehr nett zu mir. Trotzdem wollte Tommy mich nicht den Wagen seines Vaters fahren lassen. Er erklärte mir lang und breit, was ihm blühte, falls jemand Fingerabdrücke auf dem Lack hinterließ. Dass er einen verbeulten Kotflügel nicht überleben würde. Wenn es
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