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Alles auf Anfang

Alles auf Anfang

Titel: Alles auf Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benioff David
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aneinandergedrückt.
    »Ihr zwei solltet Freunde sein«, sagte er. Er war das Geburtstagskind, darum saßen wir nebeneinander im Hinterzimmer des Restaurants und spielten Was machst du, wen kennst du. Außer dass du geschwindelt hast. Du erzähltest mir, du seist gerade mit dem Flugzeug von der Trauerfeier deines Vater in L. A. zurückgekommen.
    »Wie ist er gestorben?«, fragte ich. Ich wusste, dass diese Frage nicht sehr taktvoll war, aber ich musste sie einfach stellen. Ich will nämlich immer wissen, wie Tote zu Toten wurden.
    Du hieltest eine rote Kerze schief, sodass das Wachs auf meine Handfläche tropfte. »Tut das weh?«
    »Nein«, log ich.

    »Dann hast du eine hohe Schmerzgrenze, Frank. Das gefällt mir.«
    »Frankie«, sagte ich. Ich habe tatsächlich eine hohe Schmerzgrenze. Das bedeutet aber nicht, dass ich Schmerzen mag.
    »Er starb an Lungenkrebs, Frankie. Er hat vier Schachteln am Tag geraucht.«
    Ich hatte noch nie gehört, dass jemand vier Schachteln am Tag raucht. »Das tut mir leid«, sagte ich. Es schien der falsche Moment zu sein, »Das tut mir leid« zu sagen, aber mir war klar, dass dieser Satz in einem Gespräch über einen toten Verwandten irgendwann fallen musste, und ich dachte mir, ich füge ihn besser hinzu, solange ich die Chance dazu habe.
    »Es war, als ob«, sagtest du und hieltest dann inne. »Es war, als ob er sich selbst abfackeln wollte.«
    Ich spielte mit dem Wachs in meiner Hand und sagte nichts. Keiner in meiner Familie war tot, und es fiel mir schwer, sie mir tot vorzustellen.
    Wir saßen zu zwanzigst dicht gedrängt in dem schmalen Hinterzimmer. Krumme rote Kerzen brannten auf dem langen, in Gelb gedeckten Tisch; an den Wänden hingen Zebrafellimitationen neben gerahmten Fotografien magerer afrikanischer Frauen, um deren in die Länge gezogene Hälse sich eng anliegende silberne Reifen wanden.
    »Das sind keine Äthiopierinnen«, sagtest du und deutetest mit dem Kinn auf die Fotografien. »Die sind vom Stamm der Zatusi. Sie leben hauptsächlich in Kenia.«
    Unser gemeinsamer Freund Michael, das Geburtstagskind, stand schwankend am anderen Ende des Tisches auf,
Weinglas in der Hand, und verkündete: »Ich bin jetzt dreißig Jahre alt, verdammt noch mal, und ich bin nicht glücklich darüber.« Aber ich konnte Michael jetzt nicht zuhören.
    »Warst du bei ihm, als er starb?«, fragte ich.
    »Ich habe seine Hand gehalten. Er sah aus wie ein frisch geschlüpftes Küken.«
    »Das Wichtigste ist«, sagte Michael, »ich meine, das Aller- wichtigste ist, dass alle meine besten Freunde heute Abend hier sind. Abgesehen von dir «, sagte er, auf mich deutend. »Wer zum Teufel bist du denn?«
    Einen Moment lang war ich nervös, doch dann begannen alle zu lachen, und ich lachte mit. Du lachtest, und dann drücktest du unter dem Tisch mein Knie.
    »Kleiner Scherz, Frankie«, sagte Michael. »Wir sind alle froh, dass du heute Abend kommen konntest. Frankie wird uns später die ersten Kapitel seiner Doktorarbeit über John Donnes Geistliche Sonette zum Besten geben. Das ist doch was, worauf wir uns freuen können.«
    Das Ärgerliche ist, dass Michael am College Englische Literatur als Hauptfach belegt hatte; er kann meinen Beruf somit nach allen Regeln der Kunst ins Lächerliche ziehen. Michael managt seinen eigenen Hedgefonds; ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Er bezahlt das Abendessen, das bedeutet es.
    Als ich sicher war, dass Michael mit mir fertig war, fragte ich dich, was du mit »frisch geschlüpftes Küken« meintest. Du hattest deinen Stuhl näher an meinen gerückt; ich konnte nun dein Parfüm riechen. Zimt.
    »Hast du mal gesehen, wie ein Küken aus der Schale kommt?«, fragtest du mich. »Da ist nur dieser flaumbedeckte
Kopf, der auf einem furchtbar mageren Körper hin und her wackelt. Genau so sah Leonard aus. Mein Dad. Er wog nur noch etwa fünfundvierzig Kilo, als er starb.«
    »Hatte er große Schmerzen?«
    »Das weiß ich nicht. Er war ja gar nicht mehr bei sich. Hoffentlich nicht. Es ist, wie wenn man mit einem Marmeladenglas eine Spinne einfängt und den Deckel fest zuschraubt, und zuerst huscht sie noch überall herum, aber dann beginnt ihr die Luft auszugehen, sie wird langsamer und langsamer, und zuletzt kippt sie einfach um.«
    Ich dachte eine Weile darüber nach.
    »Es war schwer, mit ansehen zu müssen, wie er immer kleiner wurde«, erklärtest du mir. »Er war früher groß, ein großer, kräftiger Kerl. In den Sechzigerjahren war er in einer

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