Alles auf dem Rasen
Partikularinteresses führt zu einer Steigerung des gemeinsamen Nutzens. Hinzu kommt, dass im hierarchielosen Gefüge wenig Ansatzpunkte für Rangkämpfe gegeben sind. Und schließlich reduziert körperloser Umgang den Einfluss emotionaler Reaktionen – ohne physisches Bedrohungspotential entsteht weniger Angst. Solange unter diesen Voraussetzungen die störungsfreie Herstellung eines Interessengleichgewichts möglich scheint, ist der Bedarf an übergeordneten Regeln gering, der Spielraum für Selbstregulierung hingegen groß.
Und sie findet statt. Die Entstehung der open-source -Gemeinde, die für die freie Nutzung, Verbreitung und Weiterentwicklung von Softwareprodukten eintritt, ein eigenes Institutionengefüge mit eigenen Lizenzen bereithält und den traditionellen Softwareherstellern empfindliche Konkurrenz macht, ist ohne den Datenbazar Internet nicht vorstellbar und bietet ein eindrucksvolles Beispiel nichtstaatlicher Regelungsmacht. Auch das selbstreinigende und rasant anwachsende Internetlexikon Wikipedia setzt zur Aufrechterhaltung des Seerechts im Informationenmeer auf ungeschriebene Verhaltenskodizes. Längst gibt es einen Internet-Knigge, der nicht nur Emoticons interpretierbar macht, sondern sich auch um elektronische Privatsphäre, geistiges Eigentum und qualitative Inhaltskontrolle kümmert. Auch das Anheuern erfolgreicher Hacker als künftige Sicherheitstechnologen kann zum selbstregulativen Umgang mit netzgesellschaftlichen Problemen gezählt werden.
Die Beispielliste ist nicht abschließend. Sie soll dennoch zeigen, dass das Internet etwas mit der völkerrechtlichen Sphäre gemeinsam hat: Beide kennen das soft law – ein Recht mit herabgemilderter Verbindlichkeit. Erstaunlicherweise belegen Implementierungsstatistiken, dass die Bindungskraft der aus »weichen« Vereinbarungen und einer gemeinsamen Übung hervorgegangenen Normen nicht wesentlich geringer ist als jene von rechtswirksam geschlossenen Verträgen. Obwohl es im überstaatlichen Rechtsverkehr ähnlich wie im global funktionierenden Internet nur eingeschränkte Sanktions- und Durchsetzungsmöglichkeiten gibt, existiert eine Bereitschaft der Akteure, die aus ihrer Mitte entstandenen Verhaltensregeln zu befolgen. Der Vorteil selbstregulativer Prozesse liegt auf der Hand: Sie passen den menschlichen Beziehungen, aus denen sie hervorgegangen sind, wie ein Handschuh der Hand. Sie sind ein Spiegel des Lebens und somit in identischer Weise – dynamisch.
Wir haben genug gesehen und überlegen, noch heute ins Tal der Erkenntnis aufzubrechen. Vorher eine kleine Bestandsaufnahme gesammelter Eindrücke.
Erstens: Das Statische am Recht ist seine Staatlichkeit. Zweitens: In unserer aktuellen Lebenswirklichkeit kommt nebenstaatlichem Recht eine große Bedeutung zu. Auf EU-Ebene entspringt es dem Wirken einer nichtstaatlichen Organisation in einem Verfahren mit verminderten Demokratiestandards. Im Internet wird es durch selbstregulative Prozesse geschaffen. Drittens: Dem nebenstaatlichen Recht wohnt die höchstmögliche Dynamik inne. Viertens: Anscheinend brauchen wir das. Fünftens: Weil es sich in beiden Fällen um im Entstehen begriffene Rechtsräume handelt, ist zu vermuten, dass die Entwicklung letztlich dem Fluchtpunkt einer »Verstaatlichung« der Normensysteme entgegenstrebt. Aber sicher ist das nicht. Sechstens: Alles hat Vor- und Nachteile.
Letzteres wussten wir schon.
Die Firma Justitia und Partner wird an ihrer corporate identity trotzdem nichts ändern. Aber vielleicht könnte sie ein paar Außendienstmitarbeiter beschäftigen. Freischaffende oder so.
1999
Der Eierkuchen
Gipfel und Gegner
Schon am Eröffnungstag des EU-Gipfels in Nizza stehen den europäischen Staatsmännern Tränen in den Augen. Verstohlen wischt man sie ab, betupft Augenwinkel mit Taschentüchern, geht gefasst zur Tagesordnung über. Vorschusstrauer, weil niemand an den Verhandlungserfolg glaubt? Oder wird auf die Tränendrüse gedrückt, in der Befürchtung, das Gewünschte nicht zu bekommen?
Durchaus vorstellbar. Aber in Nizza wird im Jahr 2000 aus anderem Grund geweint: Tränengas kriecht durch die Korridore des Konferenzzentrums.
Falls es nicht ohnehin schon ein altes chinesisches Sprichwort ist, kann es seit dem letzten Treffen des Europäischen Rats jedenfalls als wirkungsvolle Diagnosemethode gelten: Erkenne dich selbst in deinen Gegnern.
Auf der Straße bringt man mit jener Leidenschaft für europäische Fragen, die sich auch Regierungschefs gern
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