Alles auf dem Rasen
europäischen Hauses die zweite Alternative probieren – weniger Demokratie. Und tatsächlich: Das Haus wächst schnell.
Der Integrationsprozess in Europa stellt sich hauptsächlich als ein Werk der Regierungen dar, parlamentarische Beteiligung spielt noch immer eine untergeordnete Rolle. Das Zustandekommen einer Rechtsnorm hängt deshalb von der Mitwirkung einer vergleichsweise geringen Anzahl von Personen ab. Dieser Mangel an demokratischer Legitimierung von EU-Normen hindert selbstverständlich nicht das Entstehen eines Rechtssystems. Wir wollen nicht gleich vom Hügel schreien: Je weniger Demokratie, desto auf jeden Fall schlechter! – Es lohnt sich nachzusehen, ob im Rahmen des (tendenziell undemokratischen) Integrationsvorgangs schnelles Recht für eine schnelle Gesellschaft geschaffen wird.
Anerkanntermaßen bilden die europäischen Normen inzwischen eine »Rechtsordnung eigener Art«, die von den nationalen Systemen unabhängig ist und nicht nur auf dem ökonomischen Sektor immense Auswirkungen zeitigt. Getragen wird dieses supranationale Recht von einer eigentümlichen Legitimationskette. Die notwendigen Kompetenzen werden von den Mitgliedstaaten jeweils im Abstand von einigen Jahren paketweise durch eine Änderung der EG/EU-Verträge auf die übergeordnete Instanz übertragen. Diese souveränitätsbeschränkenden Akte müssen auf dem Weg der Ratifikation das schwerfällige parlamentarische Verfahren durchlaufen. Danach jedoch sind die rechtsetzenden Entscheidungen von EU-Kommission und Ministerrat nicht an die nationalen Parlamente und nur in geringem Maß an die Mitwirkung des europäischen Parlaments gebunden. So wird eine Beschleunigung der europäischen Integration ermöglicht, die, gemessen an ihrer Bedeutung, rasant genannt werden kann.
Man darf es ruhig aussprechen: Nicht eine der in den letzten Jahrzehnten verabschiedeten Richtlinien und Verordnungen wäre in Kraft getreten, wenn sie der Zustimmung nationaler Parlamente bedurft hätte. Wenn die europäische Integration einem durch ökonomische Globalisierung entstandenen Bedürfnis nach gesellschaftlichem Wandel entspricht, dann verwirklicht ihr schnelles Rechtsetzungsverfahren im positiven Sinn einen hochdynamischen Impuls.
Ein kleines Gedankenspiel zur Verallgemeinerungsfähigkeit dieses Prinzips führt zu der Vorstellung, man würde in unserem Land alle vier Jahre gewisse Rahmenkompetenzen auf die Bundesregierung übertragen, auf deren Grundlage die Minister während der Folgeperiode legislativ tätig werden können. Die Bundesregierung erlässt nach flüchtiger Anhörung des Parlaments ein Gesetz zur Anhebung der Einkommenssteuer auf 70-Prozent – das wäre eine Variation auf den EU-Vertrag. Nicht ohne Grund jagt diese Idee dem demokratisch versierten Bürger kalte Schauer über den Rücken. Was ist anders am Europarecht? Warum darf es so dynamisch sein?
Das Europarecht ist eine neuartige Erscheinung in Bezug auf die Anbindung der Rechtsmacht. War bisher in allen staatlichen Systemen die Rechtsetzungsbefugnis Teil der staatlichen Gewalt, begegnen wir hier einem gesetzgebenden Gebilde, das selbst keine Staatsqualität besitzt. Die erlassenen Regeln sind nicht solche der Vereinigten Staaten von Europa, denn diese gibt es nicht. Seit aber das Europarecht vom Europäischen Gerichtshof und den nationalen Verfassungsgerichten als eigene Rechtsordnung anerkannt wird, ist es auch nicht mehr als Recht der Mitgliedstaaten anzusehen. Es ist also, streng genommen, kein staatliches Recht.
Entsprechend wird die momentane Gestalt des Europarechts als Übergangsstadium begriffen, das sich, explizit oder nicht, auf den Fluchtpunkt der EU-Eigenstaatlichkeit hinbewegt. Dabei fördert das Recht naturgemäß nicht die Bewahrung einer (nichtexistenten) staatlichen Gewalt, sondern allein ihre Erlangung. Es ist ein Integrationsrecht und damit von Grund auf dynamisch ausgerichtet. Im Moment der Begründung von Staatlichkeit, in dem das europäische Volk auf europäischem Gebiet einer rein europäischen Souveränität unterworfen würde, hätten die integrationsfreundlichen, dynamischen Rechtsetzungskonzepte ausgedient. Das Staatsvolk, so die demokratische Idee, kann nur sich selbst unterworfen werden und muss seine Gewalt im Wege von Mitwirkungs- und Repräsentationsverfahren ausüben dürfen. Was auf europäischer Ebene zu beobachten ist, muss von waschechten Demokraten als zeitlich begrenzter Zustand gedacht werden.
Das reicht schon fast für eine
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