Alles auf dem Rasen
Institutionalisierungsniveau. Damit bewegt sich die Gemeinschaft in Bezug auf ihre wirtschaftlichen Funktionen hauptsächlich auf supranationaler Ebene, während das Bewahren nichtökonomischer Ziele eher der mitgliedschaftlichen Sphäre zukommt.«
»So in etwa«, sage ich, »aber du bringst meine vertikalen und horizontalen Konfliktschichten durcheinander.«
»Das Genie beherrscht das Chaos«, meint F.
»Der Clou ist jedenfalls«, sage ich, »dass die Verfolgung wirtschaftlicher Ziele ganz von selbst manchen ideellen Werten zugute kommt – und vice versa . Ohne dass dieses Verhältnis im Rahmen einer normativen Ordnung erzeugt werden müsste.«
»Diese Behauptung verlangt ein bisschen Empirie«, sagt F.
Mir fällt ein, dass er im zweiten Nebenfach Soziologie belegt hatte.
»Exkurs Ende«, verkünde ich, »wir kommen planmäßig wieder zur Osterweiterung. Und damit zur Quadratur des Kreises.«
Wunsch und Wirklichkeit
Ausgerechnet die erste Erwägung der Präambel des EGV liest sich auf den ersten Blick fast wie eine contradictio in re . Sie lässt sich als eine Grundaussage zur Erweiterungsfähigkeit und Erweiterungsbedürftigkeit der Gemeinschaften verstehen und betrifft damit das Verhältnis von »weit« und »tief«. Die Europäische Gemeinschaft wird gegründet »in dem festen Willen«, so heißt es, »die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen«. – »Europäische Völker« bezeichnet dabei nicht nur die Bevölkerungen der Gründungsmitglieder. Vielmehr werden hier sämtliche Völker Europas als mögliche künftige Mitglieder gedacht. Im selben Satz bezieht sich der »immer engere Zusammenschluss« auf das Potential der Gemeinschaft, das Integrationsniveau immer weiter zu vertiefen. Was ich oben die Quadratur des Kreises genannt habe, betrachtet der EG-Vertrag ganz selbstverständlich als eine parallel zu verfolgende Entwicklung: gleichzeitig immer weiter und immer tiefer zu werden.
»Präambeln«, sagt F., »sind wie Wunschzettel vor Weihnachten. Man kann froh sein, wenn man ein Zehntel des Gewünschten bekommt.«
»Und eben in der Vorweihnachtszeit«, sage ich, »bemühen sich die holden Heerscharen in Nizza mal wieder, gleich zwei Wünsche auf einmal zu erfüllen.«
»Natürlich sind sie, wie die Presse schon seit Wochen weiß, zum Scheitern verurteilt«, sagt F.
»Scheitern ist freilich ein relativer Begriff«, wende ich ein und komme erneut ins Plaudern.
Meine Mutter, damals Studentin der Romanistik, flog Anfang der sechziger Jahre in der französischen Provinz hier und da aus einer Kneipe, weil man ihren Akzent als deutsch identifiziert hatte. Heute sind die Deutschen in Frankreich, genau wie umgekehrt, jederzeit willkommen – zum Studieren, zum Leben und Arbeiten. Ich selbst lernte noch im Gymnasium, dass man sich im Fall eines atomaren Erstschlags eine Aktentasche über den Kopf halten soll. Wenige Jahre später verbringe ich Studienaufenthalte in Osteuropa, genieße Förderung aus Töpfen der EU und erfahre, dass die Deutschen in Polen in den Charts der Sympathien immerhin an dritter Stelle hinter den Amerikanern und den Franzosen rangieren.
Lauscht man den derzeitigen Diskussionen zur Osterweiterung, mag zwar der Eindruck entstehen, es handele sich bei der europäischen Versöhnung nach Ende des Kalten Kriegs eher um eine lästige Pflichtübung …
»Die EU«, sagt F., »ziert sich eben bisweilen wie eine Frau, die bei Beziehungskrisen erst einmal vorbringt, Probleme mit sich selbst zu haben.«
»… Aber man sollte nicht vergessen«, sage ich, »dass auch Westeuropas Rückkehr nach Europa wesentlich länger gedauert hat als ein Jahrzehnt. Um der gegenwärtigen Entwicklung gerecht zu werden, sollte über die Schranken des selektiv-beschönigenden Erinnerungsvermögens hinweg gelegentlich ein Blick auf die Widerstände geworfen werden, die von Anfang an im Verlauf des europäischen Integrationsprozesses überwunden werden mussten. Was nicht heißen soll, dass irgendeine Lorbeere Platz zum Ausruhen böte.«
Jetzt applaudiert F. endlich mal.
»Hurra«, sagt er, »ein Plädoyer für die gnädige Perspektive. Und jetzt weiter mit der Pseudofeldforschung.«
Die Empirie zeigt, dass demokratische Staaten häufig über einigermaßen gesunde Wirtschaftssysteme verfügen. Andersherum betrachtet weisen Staaten, deren Bürger in relativ gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen leben, stabile demokratische Strukturen auf.
Weitere Kostenlose Bücher