Alles auf dem Rasen
Gemeinschaftsgebiet erlassen wird, möglichst groß sein. Und weil jeder neue Teilnehmer an einer solchen Ordnung eine Fülle von historischen, politischen und gesellschaftlichen Eigenheiten mit sich bringt, gilt der Merksatz: Je mehr neue Mitglieder, desto größer die Heterogenität, desto weniger Integration. Deshalb bereitet es der Europäischen Union Schwierigkeiten, wie der Atlantik zu sein, nämlich weit und tief zugleich.
»Oder wie das«, sagt F., »was hinter dem Atlantik kommt: die USA.«
» That’s beyond question «, sage ich.
»Wenn ich richtig zähle«, sagt F., »waren das Beispiele für zwei deiner Konfliktebenen. Auf zwischenstaatlicher Ebene hält es das agoraphobische Frankreich gern très intim mit den deutschen Nachbarn und ist damit potentieller Erweiterungsgegner, während England, latent klaustrophob und mit Sicherheit nicht schwindelfrei, enlargement geradezu als Erleichterung empfindet.«
Freund F., fällt mir ein, hatte im Nebenfach Psychologie.
»Vertikal«, sagt er, »sehen wir am Gang der Verhandlungen mit den Kandidaten, wie die Gemeinschaftsebene durch die Verpflichtung neuer Mitglieder zur Übernahme des gesamten acquis communautaire den künftigen Beitritt ohne jeden Verlust von Homogenität zu überstehen versucht, während die Bewerber, nicht zuletzt durch die demokratische Bindung an Vorstellungen und Wünsche ihrer Bevölkerungen, schon im Vorfeld um den Erhalt nationaler Eigenheiten kämpfen.«
» Formidable «, lobe ich, » sanae mentis est .«
»Wer?«
»Na, du.«
»Ach er«, grinst F. »Und was ist jetzt mit deinem Drittens von vorhin?«
»Drittens«, sage ich und ziehe schwungvoll ein imaginäres Kaninchen aus dem nichtvorhandenen Zylinder. »Drittens besteht darin, dass schon die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften diese Quadratur des Kreises verlangen: gleichzeitig weit und tief zu sein.«
F. applaudiert nicht. F. wartet.
Wirtschaft und Werte
»Exkurs«, trompete ich.
Die Integration im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften basiert ihrer Entstehungsgeschichte nach und bis heute auf einem einzelnen Sektor des gesellschaftlichen Spektrums: dem ökonomischen. Die EU in ihrem derzeitigen Zuschnitt ist aus Wirtschaftsabkommen zwischen einer kleinen Anzahl von Staaten hervorgegangen. In Paris und Rom beschlossen Frankreich, Deutschland, die Beneluxstaaten und Italien, durch die Gründung der drei Gemeinschaften eine Liberalisierung des Handels in Europa zum gegenseitigen Nutzen aller Beteiligten zu erreichen. Entsprechend lesen sich die in Art.-2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EGV) verankerten Gemeinschaftsaufgaben im Wesentlichen als Wirtschaftsprogramm: Errichtung eines Binnenmarkts durch Beseitigung sämtlicher Hindernisse für den Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr; Gründung einer Wirtschafts- und Währungsunion; Etablierung gemeinsamer Handels- und Wirtschaftspolitiken. Dennoch erschöpft sich die Bestimmung der Gemeinschaften nicht in ihrer ökonomischen Komponente.
Vereinfachend gesprochen strebt der kapitalistisch organisierte Markt immer nach größtmöglicher Freiheit. Werte, die aus anderen Lebensbereichen stammen, müssen ihm als widerstreitende Interessen entgegengesetzt werden – der Schutz von Umwelt und Verbrauchern, von sozial schwachen Mitbürgern oder von benachteiligten Ökonomien entwicklungsbedürftiger Länder. Schutzziele dieser Art haben ebenfalls Eingang in den Aufgabenkatalog der Gemeinschaft gefunden, da sie dem Wertbewusstsein der europäischen Gesellschaften gleichermaßen immanent sind.
Inhaltliche Antagonismen werden dabei nicht immer als solche gekennzeichnet. Art. 2 EGV verlangt die Herstellung von hoher Wettbewerbsfähigkeit genauso wie eine Stärkung der Solidarität, ohne das Gegeneinanderwirken dieser beiden Konzepte zu untersuchen. An anderen Stellen ist die Auflösung des Widerspruchs zwischen Wirtschaft und Wert im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses vorgesehen. Art. 30 EGV zum Beispiel erlaubt Beschränkungen des Warenverkehrs ausnahmsweise zugunsten der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, zum Schutz von Gesundheit und Leben oder zum Erhalt bedeutender Kulturgüter.
»Hier liegt das Paradoxon also darin«, wirft F. ein, »dass die EG einerseits und in erster Linie als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde. Trotzdem sind in den Gründungsverträgen auch ideelle Ziele verankert – gleichberechtigt, aber auf einem erheblich niedrigeren
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