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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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auf die Fahne schreiben, Autos zum Kippen und Fensterglas zum Splittern. Drinnen kippt man Kompromissvorschläge, und zersplittert sind vor allem die Meinungen. Vor der Tür ist man »dagegen« und hinter ihr »dafür«. Und obwohl eigentlich klar sein sollte, worum es auf beiden Seiten geht, was man voranzutreiben oder zu verhindern sucht – nämlich die »europäische Integration« –, erzeugt näheres Hinsehen eine gewisse Irritation.
    Drinnen haben fünfzehn Staatenvertreter fünfundzwanzig Auffassungen und finden den Strang nicht, an dem sich gemeinsam ziehen lässt. Und was da draußen einträchtig an Polizeiautos rüttelt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine wirre Mischung aus spanischen Kommunisten, italienischen Anarchisten, dazu Separatisten aus dem Baskenland. Die französischen Bauern sind sowieso immer dabei, ebenso die deutschen Atomkraftgegner. Dann gibt es noch die Fraktion der universell demonstrationstauglichen Globalisierungsgegner, die inzwischen erstaunlich professionell global organisiert sind.
    Die EU, das wäre die Diagnose, ist dermaßen widersprüchlich, dass sie es noch nicht mal zu einer homogenen Gruppe gewaltbereiter Gegendemonstranten bringt.
    F. und Vogelperspektive
    Das sei ja sehr scharfsinnig, bemerkt mein neben mir auf die Fernsehcouch gelagerter Freund F., aber nicht sonderlich überraschend. Widersprüche in Europa – ja was denn sonst?
    »Schon seit der Antike«, fährt er fort, »zeichnet sich der europäische Kontinent durch die dialektische Entwicklung seiner Kultur in zwei gegensätzlichen, einander beeinflussenden und bedingenden Strömungen aus: Zum einen beobachtet man die Herausbildung einer hohen Anzahl unterschiedlicher Gesellschaften mit eigenen sozialen und politischen Strukturen auf relativ begrenztem Raum. Zum anderen bestand immer schon eine Tendenz zur Erschaffung gemeinsamer Ideen und Werte in einem suprakulturellen System. Auch das heutige Europa schöpft seine Gestalt aus jener Wechselwirkung zwischen Vielfalt und Einheit, und der Integrationsprozess innerhalb der Europäischen Union ist nichts anderes als die aktuellste Ausformung dieses Phänomens.«
    »Du meinst«, frage ich, »indem man nach Vereinigung strebt, gleichzeitig aber eine zu weitgehende Vereinheitlichung der Besonderheiten der Mitglieder vermeiden will?«
    »Genau«, sagt F. »Widersprüche sind vorprogrammiert, ja sogar erwünscht.«
    F. ist Historiker und denkt als solcher in der Vogelperspektive. Das ergibt eine beruhigend organische Vorstellung vom Gewordensein der Dinge.
    »Im Fall der EU«, wende ich ein, »finden sich Gegensätze auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Es gibt sie horizontal zwischen den Mitgliedstaaten. Es gibt, vertikal, den von dir beschriebenen Widerspruch zwischen Vergemeinschaftung und dem Verteidigen nationaler Eigenständigkeit. Das Konzept der Europäischen Gemeinschaften ist von Anfang an in sich widersprüchlich.«
    Vor allem Letzteres findet F. interessant, aber mit der Antike hat es nichts mehr zu tun, weshalb er es sich schlecht vorstellen kann, und ich soll doch mal konkret werden, aus gegebenem Anlass am besten mit Bezug auf die aktuellen Probleme der Osterweiterung.
    Weit und tief
    »Das Vereinigte Königreich unterstützt die Erweiterung in der Hoffnung, dadurch das Integrationstempo zu verlangsamen und die Europäischen Gemeinschaften in eine lockere Freihandelszone zu wandeln«, zitiere ich.
    Dieser Satz, der durchaus im Rahmen einer Diskussion über die Osterweiterung gefallen sein könnte, stammt aus dem Jahr 1977 und von der britischen Regierung selbst. Er betrifft die Süderweiterungen, also den Beitritt Griechenlands, Portugals und Spaniens, und zeigt, wie sehr die Vorstellungen schon immer darüber auseinander gingen, was die Europäischen Gemeinschaften sind oder sein sollten. Im Tiefenrausch denkt man bis zu den Vereinigten Staaten von Europa; wer das Weite sucht, träumt eher von einem flächendeckenden Wirtschaftsraum bei größtmöglicher Eigenständigkeit der teilnehmenden Staaten.
    Betrachtet man den Atlantik, stellt man fest, dass die Attribute »tief« und »weit« sich nicht notwendig gegenseitig ausschließen. Allerdings muss sich der Atlantik, anders als die EU, auch keine Sorgen um seine Homogenität machen.
    Nur wenn sich die Rechts- und Verwaltungssysteme, die sozialen und kulturellen Voraussetzungen in den einzelnen Staaten so weit wie möglich gleichen, kann die Effektivität einer Regel, die für das gesamte

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