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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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der Bekannte dritten Grades die historischen Hintergründe des mysteriösen Instituts, das mir wie ein gemeinsames Outing-Projekt für gesellschaftliche Abweichler erschien. In den fünfziger Jahren war das Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig von der SED gegründet worden, um ausgewählte Studenten in Marxismus-Leninismus, Literaturtheorie und Schreibpraxis zu unterweisen. Etablierte Schriftsteller wie Erich Loest, Sarah Kirsch oder Ralph Giordano fanden dort einen Ort, an dem man »frei denken und schreiben« konnte (so Angela Krauß). Und wurden gleichzeitig mit Rotlicht bestrahlt. Der Bekannte kniff ein Auge zu: »Wenn du verstehst, was ich meine.« Als Westkind begriff ich gerade noch, dass es sich beim ehemaligen Literaturinstitut um etwas »Ambivalentes« gehandelt haben musste. Das neue DLL hingegen, hieß es, sei Teil der Universität, Studentenausweis und BAFÖG-Anspruch inklusive. Sechs Semester und Diplom.
    Nichts, absolut nichts konnte ich mir unter einer Einrichtung vorstellen, die angehende und halbfertige Schriftsteller versammeln will zu – ja, was?
    »Schau’s dir halt mal an«, meinte der Bekannte, schrieb eine Adresse auf und fuhr zurück nach Leipzig.
    Auf gut Glück gab ich ›www.dll.de‹ in die Adresszeile des Browsers ein und lernte manches über Reha-Kliniken, Patientenverwaltung und Stationskommunikation. Als Beschreibung für eine universitäre Autorenschmiede mochte das nicht ganz unzutreffend sein; trotzdem gehörte die Homepage nicht dem Literaturinstitut. Also surfte ich for further details im Polo Fox von Passau nach Leipzig – und glaubte mich auch dort in einer virtuellen Welt. Irgendwo zwischen zwanzigstem und dreißigstem Stockwerk des zahnförmigen Uni-Turms hockte eine Hand voll seltsamer Gestalten. Ein bleiches Mädchen schaute traurig durch den vertikalen Spalt in ihrer schwarzen Frisur. Neben ihr kauerte ein Mann undefinierbaren Alters in einer Ligusterhecke aus Haaren. Ein langer, dünner Mensch, dem die Beine brechen mussten, falls er einmal aufstehen sollte, verlas ein Gedicht. Patientenverwaltung und Stationskommunikation versagten sogleich. Ich fühlte mich so nervös und fehl am Platz, dass ich nicht ein Wort des Seminarinhalts begriff. Vage erinnere ich mich an ein Gespräch über einzeln herabsinkende Schneeflocken. Vielleicht ging es auch um weiße Federn. Oder das war Delirium.
    Die Einzigen, die hinter meiner DLL-Bewerbung standen, waren meine Eltern: Kind, du wirst schon wissen, was du tust. – Ich hatte keine Ahnung. Meine Entscheidung fiel aus Neugier, aus Rebellion gegen das gehassliebte, irgendwie doch ein wenig zu bürgerliche Erststudium. Und weil Leipzig wunderschön war, der Frühling warm und der Osten Deutschlands neu. Die Idee, mein Schubladen-Schreiben in eine echte, nach außen gerichtete Tätigkeit zu verwandeln, kam mir absurd und vermessen vor. Es brauchte ein Jahr und zwei Anläufe, bis meine dreißig Seiten Bewerbungstext und ich den Eingangstest bestanden hatten.
    Als ich das Studium aufnahm, war die Schule bereits umgezogen ins ehemalige Gästehaus der Volkspolizei in der Wächterstraße, eine hübsche Jugendstilvilla mit Garten, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Hochschulen für Musik, Theater, Graphik und Buchkunst. Bis heute nehmen Besucher staunend zur Kenntnis, dass die Exzentrizität angehender Schriftsteller keinen Niederschlag in bemalten Wänden und kuscheligen Secondhandsofas findet, sondern es nur zu weißen Kacheln, Teppichboden und Kaffeeautomaten bringt. Weil ich aber daran gewöhnt war, in einem Audimax mit fünfhundert Plätzen auf der Treppe zu sitzen, um rhabarbernden Juraprofessoren zu lauschen, hielt ich die Villa für einen Vorhof des Himmels. Auf jeden Studenten kam ein Fünftel Dozent.
    Acht Jahre später werde ich auf Lesungen häufig mit einer Frage konfrontiert, die ich mir damals – vielleicht aus Naivität – gar nicht gestellt habe: Ob Schreiben eigentlich lehr- und lernbar sei. Und was ist man nach dem Studium? – Genau. Das ist man. Sprechen Sie mir langsam nach: Diplomschriftsteller . So ähnlich wie diplomierter Schauspieler oder Bildhauer. Warum eigentlich muss die Frage, inwieweit Kunst vermittelbar sei, immer gerade dann diskutiert werden, wenn sie die Literatur betrifft?
    Das häufig spürbare Misstrauen gegenüber dem Literaturinstitut kann nicht allein daher rühren, dass ein Schriftstellerdiplom auf dem Arbeitsmarkt weniger wert ist als der Führerschein. Dieses Problem haftet

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