Alles auf dem Rasen
möglichst nah an tatsächliche Wahrnehmungen und Empfindungen heranzukommen. Das bedeutete eine völlig neue Form des Arbeitens, bei der schöpferischer Akt und handwerkliche Anstrengung im selben Moment zusammenfielen. Schwierig, aber nicht unmöglich. Falls ich noch einen Roman schreiben sollte, nahm ich mir vor, würde ich zuerst eine Handlung und Figuren erschaffen, ein Konzept entwerfen und dann erst mit dem Schreiben beginnen. So nämlich, wie es in meiner Vorstellung die echten Schriftsteller machen.
Dann kam das zweite juristische Staatsexamen.
Der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch die Fähigkeit, sich selbst nach allen Regeln der Kunst in die Tasche zu lügen. Die Strategien der Heimlichkeit erlebten eine Aufrüstung.
»Was schreibst du da?«, fragte mein Freund.
»Nichts«, erwiderte ich und fuhr damit fort, Abend für Abend und Nacht für Nacht auf meinen Computer einzuhacken. Unser Kurzdialog wurde zum running gag : Was schreibst du? – Nichts. – Und wie läuft es so mit dem Nichts?
Mit dem Nichts lief es ganz gut, zumal der neue Text vom Nihilismus handelte. Allerdings genügte es nicht mehr, mir selbst vorzumachen, ich betreibe das Schreiben als Ausgleichssport zum Staatsexamen, denn schließlich hatte ich gesehen, was beim ersten Mal daraus geworden war. Also definierte ich den von neuem anwachsenden Wörterberg als Schreibübung zum Einstudieren einer neuen Erzählperspektive. Dass die Seitenzahl ins Maßlose stieg, störte nicht weiter. Bei Übungen aller Art gilt der Merksatz: Viel hilft viel.
Wieder führte während des Schreibens die Heimlichkeit das Zepter. Kein Satz durfte ein zweites Mal gelesen und verbessert werden. Streng verboten, die am Vortag geschriebenen Textstellen einzusehen. Völlig ausgeschlossen, nach Sinn, Nutzen oder Qualität des Erzeugten zu fragen. Überflüssig die Angst vor dem Schreckgespenst des zweiten Romans. Ich schrieb keinen zweiten Roman, ich erwarb das zweite juristische Staatsexamen. Und das war anstrengend genug.
Ein paar Details hatten sich jedoch verändert. Der Punkt, an dem ich beschloss, aus der »Materialsammlung« ein Buch zu machen, kam erheblich früher als beim letzten Mal. Auch hatte ich beizeiten angefangen, in Kapitelstrukturen zu denken. Das Drauflosspinnen war in weiten Passagen einem roten Faden gefolgt, so dass die entstandenen Handlungselemente linearer und nicht so sehr in die Breite verliefen. Dadurch wurde es leichter, den Text im Nachhinein auf seine Schwerpunkte und die gewünschte Richtung zu untersuchen und die Roman isierung in Angriff zu nehmen.
Am allerleichtesten wäre es allerdings, einen Text fertig zu stellen, der nicht unter dem Diktat der Heimlichkeit geschrieben ist. Ich stünde nicht vor einer Wörterreihe, deren Anfang und Ende sich in nebliger Ferne verliert, ich sähe mich nicht mit der Aufgabe konfrontiert, aus formlosen Materialsammlungen Erzählkörper zu modellieren. Was also ist der Vorteil der Heimlichkeit? Wieder eine falsch formulierte Frage. Der Heimlichkeit liegt keine Entscheidung zugrunde, sie ist ein Zwang. Ich muss frei schreiben können, nur für mich selbst, nur für jenen Moment, in dem diffuse Gedanken sich der konkreten Wortform fügen und auf dem Papier oder Bildschirm zu etwas Gegenständlichem werden. Ohne diese Art des Schreibens könnte ich mich selbst, mein Leben und die Welt nicht ertragen. Wenn ich beim Formulieren eines Satzes daran denken muss, wie der Leser ihn versteht oder welchen Stellenwert und welche Funktion das Gesagte im Gesamtkontext einnehmen soll, mischen sich die mahnende Stimme der Formanstrengung, Sirenengesänge des Erfolgswunschs, das Nölen meines inneren Lektors und das Geplapper fiktiver Kritiker zu einem kakophonen Chor, der alles andere übertönt. Versuche ich, eine vom Konzept vorgesehene Szene zu entwerfen, leert sich mein Kopf und die Worte zerfallen mir wie modrige Pilze unter den tippenden Fingern. Ich will Texte vor mich hin summen wie erfundene Melodien, die nie abreißen und sich niemals wiederholen, und von denen man selbst am allerwenigsten sagen kann, woher sie kommen und wer sie erfand. Dafür brauche ich Heimlichkeit.
Und die spricht so:
Jede Heckscheibe ein Stück Himmel, postkartengleich: Hellgraue Wolken mit gelben Bäuchen zogen gemächlich weidend über das blanke Blau, alle in eine Richtung, einem fernen Leittier folgend.
»Man übernimmt manches von der Mutter. Sehen Sie, dass mein Brustkorb aufgeworfen ist und die Rippenbögen
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