Alles auf dem Rasen
Schreiben machte keine Freude mehr. Ein Jahr lang ließ ich fast vollständig die Finger davon. Dann beschloss ich, zur Heimlichkeit zurückzukehren.
Viele Wege führen zur Erkenntnis, aber keiner führt zurück. Das Wissen um den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Satz ließ sich nicht mehr vergessen. Ein immanenter Leser war in mir herangewachsen. Ich war beim Schreiben nicht mehr allein. Zudem hatte die Feindberührung zur Verknüpfung zweier Neigungen geführt, die sich bislang auf unterschiedlichen Feldern ausgetobt hatten. Seit neuestem verband sich das Schreibbedürfnis mit meinem Sendungsbewusstsein, das bislang auf anderen Äckern gepflügt hatte. Durch Texte ließ sich wunderbar etwas sagen – eine späte Einsicht. Wie soll man als Schriftsteller zur Heimlichkeit zurückgelangen, wenn man erstens sein eigener Leser ist und zweitens plötzlich auch noch andere braucht?
Die rettende Hand zeigt sich gern in seltsamer Gestalt. In meinem Fall erschien sie als erstes juristisches Staatsexamen.
Einer der wenigen Vorteile juristischer Examina besteht darin, dass man sich bei einem Lernpensum von zehn Stunden am Tag plus zwei sechsstündigen Probeklausuren in der Woche beim besten Willen nicht als Schriftsteller verstehen kann. Wenn man schreibt, dann abends und in der Nacht, zum Ausgleich, als Entspannung, zum Durchpusten verstopfter Hirnwindungen. Natürlich arbeitete ich nicht an einem literarischen Werk. Ich produzierte unzusammenhängende Textfetzen, Szenen, Kurzdialoge, einzelne Sätze oder kleine, in sich geschlossene Episoden. Kann sein, dass sich die Namen der Figuren zu wiederholen begannen. Kann auch sein, dass mit der Zeit das eine oder andere Geschehen auf etwas Vorangegangenem aufbaute. Dass sich Themenschwerpunkte herauskristallisierten, Charaktere entstanden, eine Art Handlungsverlauf seinen Anfang nahm. Wichtig war, dass es sich im Ganzen um etwas handelte, das ich einen Wörterberg oder eine Materialsammlung nannte – keinesfalls also um einen Roman. Bei diesem ist die Bestimmung zum Gelesenwerden Teil der Gattungsdefinition. Meine Fragmente hingegen bürgten für die Lizenz zum Träumen.
Nachdem ich die Prüfungen bestanden hatte, enthielt das Verzeichnis auf meinem Computer mit dem programmatischen Namen »Schlecht« haufenweise Dateien, die ein Textvolumen von etwa zweitausend Seiten ergaben. Ich nahm das vom Jura-Examen unterbrochene Studium am Literaturinstitut wieder auf, und weil mir zum Erwerb des Diploms noch eine Menge Leistungsscheine fehlten, wählte ich einen Ausschnitt aus den reichlich vorhandenen Texten und zeigte ihn einem Dozenten. Er lachte nicht. Er sagte: Mach was daraus. – Und stellte einen Schein der Kategorie »Große Projekte« aus.
Offensichtlich hatten sich meine neuen handwerklichen Fähigkeiten des freien Phantasierens angenommen, ohne dass ich es beabsichtigt hätte. Motiviert durch das Dozentenlob, holte ich den Lektor aus der inneren Schublade, sichtete Material, stellte Reihenfolgen und Zeitebenen her, schrieb Übergänge und entwickelte eine Geschichte, in die ich bereits angelegte Handlungsstränge überführen und einen Teil des Ideenguts, das sich aus meiner juristisch-völkerrechtlichen Spezialisierung ergeben hatte, einfließen lassen konnte. So entstand Adler und Engel . Das Fragmentarische dieses Buchs, die aufgelöste Chronologie, die Schnitt-Technik und das ganze mosaikartige Erscheinungsbild sind Folgen der Heimlichkeit.
Nach Adler und Engel schrieb ich ein Buch über Bosnien-Herzegowina, in dem ich erstmalig eine schriftstellerische Absicht in Reinkultur umzusetzen versuchte. Ich hatte Bosnien besucht und verspürte das zwingende Bedürfnis, etwas zur Auffüllung der Lücke zwischen westlichen, von Kriegsberichterstattung geprägten Vorstellungen und den eigentlichen Verhältnissen im Land beizutragen. Also unternahm ich eine längere Fahrt und notierte sitzend, stehend und gehend meine Eindrücke in eine Art Reisetagebuch, aus dem ich später Die Stille ist ein Geräusch montierte. Dieser Text war von Anfang an für die Öffentlichkeit bestimmt, ich besaß ein Anliegen und wollte etwas vermitteln. Dass bei derart intentionalem Arbeiten für Heimlichkeit kein Platz war, verstand sich von selbst und schadete nicht, da ich es in diesem Fall nicht mit einem fiktiven Text zu tun hatte. Es ging nicht ums Tagträumen. Mein Bemühen richtete sich darauf, realen Erlebnissen eine Stimme zu verleihen und mit Hilfe der Sprache
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