Alles auf dem Rasen
gerade das Phänomen, sagte er und schaute beunruhigt. Vielleicht wusste er nicht, was eine WG ist. Oder er verstand mein Lächeln nicht, dieses hinterhältige Lächeln. Deshalb gebe es doch die Debatte, und deshalb forsche er über das Thema, weil sie alle so erschreckend jung seien.
»Goethe«, flüsterte ich, »war Mitte zwanzig, als der Werther erschien. Thomas Mann begann die Buddenbrooks im Alter von zweiundzwanzig.« Der Kulturbeauftragte wich zurück, während ich auf ihn zuging. »Büchner starb mit vierundzwanzig und hatte folglich alles schon vorher zu Papier gebracht. Und Schiller schrieb die Räuber mit zweiundzwanzig unter der Bettdecke.«
Er fing an zu begreifen, starrte auf mein Lächeln, das jetzt die Zähne entblößte.
»Eins habt ihr übersehen«, sagte ich, »die Debatte und du. Jetzt kann ich es dir ja sagen: Wir waren schon immer so jung.«
Dann packte ich zu.
»Ein Critter !«, waren die letzten Worte des Kulturbeauftragten vom Mars. Ich verbeugte mich und winkte zum ersten Stock hinauf, wo Applaus erklang. Ich zerknüllte die Notizen des Marsianers und verfasste stattdessen einen einzigen Satz auf dem Block, der Nachwelt zuliebe: Schreiben kann man lernen. Die notwendige Hinterhältigkeit aber, die ist angeboren.
2002
Von der Heimlichkeit des Schreibens
I n meinem ersten veröffentlichten Roman gibt es ein viereckiges Loch. Dieses Loch hat jemand in die Dielenbretter einer Wohnung gesägt. Zuerst wurde ein Bohrer an mehreren dicht beieinander liegenden Stellen angesetzt, um der Säge einen Ansatzpunkt zu schaffen. Von dort aus hat man ungeschickt entlang der Ritzen und zweimal quer durch das Brett geschnitten. An den kurzen Enden des Lochs sind von unten Pappstreifen in die Öffnung geklebt, die den ausgesägten Deckel tragen – ein etwa vierzig Zentimeter langes Dielenstück, das mit starken Daumennägeln herausgehoben werden kann. Man sieht den Kanten an, dass die Säge mehrmals abgerutscht ist, stümperhaft geführt wie von Kinderhand.
Nicht nur »wie«. Es war eine Kinderhand, die dieses Loch sägte, und zwar meine. Im Roman wird eine Drittelmillion Mark in dem Loch verwahrt. Auch ich versteckte damals bedrucktes Papier. Das selbstgebastelte Geheimfach enthielt meine Texte. Ich hatte ein Regal abgerückt und den Boden abgeklopft, um nicht auf einen Trägerbalken zu stoßen. Das Loch war auch bei geschlossenem Deckel ohne weiteres zu erkennen, so dass immer etwas darauf stehen oder liegen musste. Dafür war unter den Dielen jede Menge Platz.
Einem Kind kommen die Dinge, die es tut, so normal vor, dass es nicht weiter nach dem Warum und Wozu fragen muss. Erst im Rückblick erscheint manche Idee skurril oder amüsant, und man beginnt zu überlegen, was sie zu bedeuten habe. Seitdem ich herausfand, dass ich die den meisten Schriftstellern verhasste Frage, das berüchtigte Warum-schreiben-Sie?, von leichter Hand beantworten kann, während ich mit dem selteneren Auskunftsverlangen Und-warum-veröffentlichen-Sie? erhebliche Schwierigkeiten habe, ist mir bewusst, dass sich unter den zersägten Dielenbrettern ein besonderes Merkmal meines Schreibens verbarg. Gern würde ich behaupten, die literarische Öffentlichkeit sei ein viereckiges Loch, in dem ich meine Texte verstecke. Allerdings wäre das gelogen. Die Wahrheit klingt längst nicht so gut: Ich bin eine heimliche Autorin.
An meine erste Kurzgeschichte kann ich mich vage erinnern. Ich war sieben Jahre alt, trug den Künstlernamen Moni und schrieb mit Filzstift in ein Schulheft auf kariertes Papier. Es ging um die Geburt eines Fohlens, die kompliziert verlief, schließlich aber doch ein gutes Ende nahm. Diese Geschichte zeigte ich meinen Eltern. Ihre Reaktion ist mir nicht im Gedächtnis geblieben, aber aus meiner damaligen Sicht kann sie nicht besonders geistreich oder weiterführend gewesen sein. In den folgenden Jahren versuchte ich niemals wieder, meine Texte dem häuslichen Zwei-Mann-Publikum zu präsentieren. Ich empfand keinen Trotz, ich hatte nicht das Gefühl, falsch verstanden oder nicht ausreichend gewürdigt worden zu sein. Es war einfach so, dass Schreiben und Gelesenwerden nicht viel miteinander zu tun hatten.
Um Wolfgang Isers Rezeptionsästhetik und andere kommunikationstheoretische Ansätze kam ich in der gymnasialen Oberstufe nicht herum. Ich lernte, dass Schreiben einen kommunikativen Akt darstellt und neben dem Sender auch einen Empfänger verlangt, ohne den das Übermitteln von Botschaften zweck- und ziellos
Weitere Kostenlose Bücher