Alles auf dem Rasen
herausstehen wie Henkel, als sollte mein Körper eines Tages an ihnen davongetragen werden?«
Er drehte sich zur Seite, öffnete die Knöpfe des Jacketts und schlug es auseinander, dass man die Silhouette von Brust und Bauch erkennen konnte, die sich deutlich abzeichneten unter dem hellen Hemd. Der Oberkörper imitierte die Form des Buchstaben P.
»Das ist ein rachitisches Syndrom«, sagte er. »Souvenir der Nachkriegszeit. Ich aber bin fast zwei Jahrzehnte nach Kriegsende geboren. Kann man eine Mangelerscheinung erben? Kann man nicht. Und trotzdem habe ich diesen Brustkorb.« Achselzuckend ordnete er das Jackett und knöpfte es wieder zu.
Sie hatten das Wasser erreicht, stützten die Ellenbogen auf das Geländer und sahen zu, wie eine erbarmungslose Sonne den Fluss leer trank. –
Wer sind diese beiden, die an einem heißen Tag spazieren gehen und sich über Anatomie unterhalten? Wo befinden sie sich, auf welchem Kontinent, in welchem Jahrhundert? Wie haben sie sich kennen gelernt und was interessiert sie aneinander?
Ich will es noch nicht wissen müssen. Ich werde es nach und nach erfahren, wenn die Textstellen sich häufen – oder niemals, wenn die zu diesen Zeilen gehörende Datei im viereckigen Loch verschwinden sollte, das inzwischen im Inneren meines Rechners liegt. Natürlich habe ich mir vorgenommen, für den nächsten Roman zuerst ein Konzept zu erstellen, Handlung und Figuren zu erschaffen … Und so weiter. Falls das nicht klappen sollte, werde ich Richter oder Staatsanwalt. Das verschafft der Heimlichkeit des Schreibens eine lebenslange Haltbarkeitsgarantie.
2005
Auf den Barrikaden oder hinterm Berg?
L ängst ist es ein Standardvorwurf, fast schon ein Stereotyp geworden, dass wir, die schreibende Zunft und vor allem die Jüngeren unter uns, im schlimmsten Sinne unpolitisch seien. Wir halten keine Parteibücher. Wir benutzen unsere Texte nicht als Träger politischer Inhalte. Ob wir wählen gehen und was, wissen bestenfalls unsere engsten Freunde. In Radiointerviews rufen wir nicht aus: Nieder mit Schröder! Tötet George Bush! Stoppt die Steuerreform! – Falls wir eine Meinung haben, teilen wir sie höchstens in aller Bescheidenheit mit, am liebsten am Küchentisch und unter kostenfreier Mitlieferung sämtlicher Gegenpositionen. Unseren Hauptwohnsitz würden wir niemals mit »Auf den Barrikaden« angeben.
Eher im Gegenteil. Ich kenne viele Autoren, die von ihren eigenen Texten oder sogar von der Literatur an sich behaupten, sie sei verpflichtet zu politischer Abstinenz. Kunst und Künstler dürften sich nicht in den Dienst überindividueller Zwecke stellen, »vor keinen Karren spannen lassen«, wie die gängige Formulierung lautet. Über diese abstrakte Frage ist in der Vergangenheit zu Genüge gestritten worden. Neu scheint mir der Umstand zu sein, dass die zeitgenössische Abkehr der Literatur vom Politischen keinesfalls einem ästhetischen Programm entspringt. Sie hat nichts mit l’art pour l’art zu tun. Sie folgt auch nicht aus einem politischen Konzept. Sie ist – einfach da. Eine Selbstverständlichkeit, zu der es keine Alternative zu geben scheint.
Natürlich ist dies kein flächendeckendes Phänomen. Kulturelle Phänomene sind niemals flächendeckend. Es geht um Trends und Häufigkeiten. Während in der vielbeleuchteten Generation der Achtundsechziger politisches Schreiben nicht nur zum guten Ton gehörte, sondern fast schon obligatorisch war; während im Osten unseres Landes auch in den nachfolgenden Jahrzehnten eine Auseinandersetzung mit dem System aus nachvollziehbaren Gründen einen festen Stellenwert im literarischen Tagesgeschäft innehatte, scheint für die Jungen und Jüngsten unter uns, gleich ob Fräulein oder Wunder, der Politik etwas Anrüchiges, ja, Altbackenes anzuhaften.
Nun will ich keineswegs ins Klagelied von der Politikverdrossenheit einstimmen. Es gibt sie nämlich nicht. Das Problem beruht allein auf einem terminologischen Missverständnis. Gemeint ist nicht die Politik-, sondern die Parteienverdrossenheit.
Die Angehörigen meiner Generation sind Einzelgänger. Sie mögen sich nicht mit einer Gruppe identifizieren. Wenn einer schon Schwierigkeiten hat, eine Familie zu gründen – wie soll er dann einer Partei beitreten? Wer sich heute als Teil einer Bewegung versteht, gerät schnell in den Verdacht eines Mangels an individueller Persönlichkeit und eines reichlich uncoolen, wenn nicht gar gefährlichen Herdentriebs. Man mag in Deutschland keine
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