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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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wäre. Trotzdem kritzelte ich vom siebten bis zum zwanzigsten Lebensjahr Hunderte von Seiten voll, ohne sie jemandem zu zeigen. Das Schreiben war kein Sprechen zu einem anderen Menschen. Es war nichts anderes als das Mitstenographieren von Gedankentätigkeit. Es half dabei, das Unterhaltungsprogramm im Kopf, das mir rund um die Uhr zur Verfügung stand, auf intensivere und komplexere Weise zu nutzen. Aufgeschriebene Geschichten wurden länger und verzweigter, während nicht verschriftlichte Phantasien aufgrund von Kapazitätsproblemen dazu neigten, immer wieder an einem bestimmten Punkt abzubrechen. Was ich aufschrieb, erfüllte seinen Zweck unmittelbar im Moment der Niederschrift. Es musste nicht gelesen werden. Nicht einmal von mir selbst. Ich versperrte die Tür. Ich versteckte die Ergebnisse unter dem Dielenboden. Noch immer gibt es auf meinem Computer Mengen von Dateien, die ich zwar geschrieben, aber niemals gelesen habe.
    Längst war ich Studentin am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, als ich in einem Text von Sigmund Freud Anhaltspunkte dafür fand, was es mit der Heimlichkeit und der Literaturentstehung auf sich hat. In Der Dichter und das Phantasieren bezeichnet Freud den Tagtraum als eine Ersatzhandlung für das kindliche Spiel, das dem Erwachsenen nicht mehr erlaubt sei, während das Dichten eine Sonderform des Tagträumens darstelle. Wenn Freud jemals Recht gehabt hat, dann in diesem Aufsatz – und in Bezug auf mich. Als Kind vergnügte ich mich mit Rollenspielen. Ich ersann eine Geschichte, mein Bruder oder meine beste Freundin übernahmen einen oder mehrere der vorgesehenen Charaktere, und so bewegten wir uns durch eine Art Theaterstück, das im Moment des Spiels entstand. Tagträumen funktionierte im Grunde genauso, nur ohne Bruder oder Freundin. Es war aufregender und geheimer. Das Schreiben führte zu einer Professionalisierung des Tagtraums. Wer will schon gern verraten, was er sich am meisten wünscht, in welcher Heldenphantasie er sich gern sieht, welchen Menschen er sich zum Mitstreiter in allen Abenteuern erwählt? – Ein heimlicher Autor kann keine Leser gebrauchen.
    Ich hatte meine Heimatstadt verlassen, das Jurastudium aufgenommen und lebte in einer WG, als meine beiden neuen Freundinnen und Mitbewohnerinnen begriffen, was ich die ganze Zeit hinter verschlossener Tür in meinem Zimmer tat. Ich arbeitete an meinem dritten unveröffentlichten Roman. Man begann mit der Belagerung. Mein Einwand, Schreiben habe nichts mit Gelesenwerden zu tun, verhallte ungehört, und es dauerte nicht lange, bis der Haussegen nur noch durch die Auslieferung einiger beschriebener Seiten zu retten war. Meine Freundinnen fanden den Text ganz gut oder immerhin nicht schlecht und verlangten mehr. Für sie war am spannendsten, dass viele der Handlungsorte und Figuren unserem gemeinsamen Umfeld entstammten. Mir war das peinlich, aber der anhaltende Terror erzeugte Gewöhnung. Fast automatisch begann ich, meine beiden frischgebackenen Leserinnen in den Text einzubauen, sie schöner, größer, schneller, klüger zu machen, als sie in Wirklichkeit waren, und sicherte mir auf diese Weise anhaltende Zustimmung. Bald darauf zauberten sie die Information hervor, dass in Leipzig eine Schriftstellerschule eröffnet habe. Wir wollten sowieso gerade umziehen.
    Das Studium am Literaturinstitut entwickelte sich zur privaten Katharsis. Ich wurde nicht nur gelesen, ich wurde interpretiert, kritisiert, verrissen und manchmal gelobt und erlebte auch bei anderen Studenten den täglichen Kampf zwischen Wort und Welt. Ich konnte schlecht zwanzig Leser in den Text einbauen, um alle zufrieden zu stellen. Das Schreiben war kein Tagtraum mehr. Ich probierte Kurzgeschichten statt ausschweifender Epen, schwelgte nicht in Phantasien, sondern überprüfte Adjektive auf ihre Notwendigkeit, lange Sätze auf Verständlichkeit, Metaphern und Vergleiche auf Genauigkeit und maß das Ergebnis an der Textintention. Das ganze Handwerkszeug des Erzählens von der Perspektive über Figurenpsychologie, Dramaturgie und Spannungsverlauf bis zur Einheitlichkeit des Stils war mir vollkommen neu. Selten zuvor habe ich in so kurzer Zeit so viel gelernt. Irgendwann war ich in der Lage, Texte zu schreiben, die in den Seminaren nicht komplett durchfielen. Ich war zu meinem eigenen Lektor geworden, hatte mich vom heimlichen Schreiber zum angehenden Schriftsteller entwickelt – und war unglücklich. Die entstandenen Geschichten gefielen mir, aber das

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