Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
sehr persönliche, private Bilder. Du hast kein Recht dazu! Das ist respektlos. Deine Reaktion ist emotional unreif. Jeder hat Fotos von seiner ersten Liebe in irgendeiner alten Schachtel versteckt, was ist schon dabei? Klapp das Album zu, leg es irgendwohin, wo Jack die nicht jugendfreien Fotos seiner Mutter nicht finden kann, und such im Internet nach Kinderwagen oder mach deine Steuererklärung oder was auch immer.
Doch stattdessen setzte sie sich im Schneidersitz in das Durcheinander auf dem Fußboden und blätterte weiter in dem Fotoalbum. Und während sie das tat, wuchs ihr Verlangen, sich mit Saskia von Frau zu Frau zu unterhalten.
G laubst du, er liebt seine erste Frau noch? Glaubst du, er hat ihren Tod jemals verwunden? Glaubst du, eine von uns hat je wirklich eine Chance bei ihm gehabt?
Ellen hatte das Gefühl, dass Saskia die Einzige wäre, die verstehen würde, warum sie nicht aufhören konnte, diese Fotos zu betrachten.
15
Die erste Rückführung in ein früheres Lebensalter vergisst man nie!
F LYNN H ALLIDAY
»Beschreiben Sie, was in Ihnen vorgeht«, sagte Ellen.
Alfred Boyle, der schüchterne Wirtschaftsprüfer, der seine Redeangst zu bewältigen versuchte, saß in dem grünen Relaxsessel und zeigte alle Anzeichen eines tiefen Trancezustandes: Seine Wangen waren gerötet, die Augen hinter den geschlossenen Lidern huschten ruhelos hin und her, die Beine waren vollkommen entspannt.
Es war seine zweite Sitzung bei Ellen, und dieses Mal führte sie ihn in einen früheren Abschnitt seines Lebens zurück. Der erste Termin hatte Ellen deutlich vor Augen geführt, dass Alfreds Scheu vor öffentlichen Vorträgen eine ausgewachsene Phobie war. Er zitterte und stotterte, wenn er nur darüber reden musste. Diese Angst hatte dramatische Auswirkungen auf sein Leben. So meldete er sich zum Beispiel regelmäßig krank an den Tagen, an denen er eine Präsentation halten sollte. Bereits die erste – bei seinem ersten Job als Wirtschaftsprüfungspraktikant – vermurkste er derart, dass sein Chef ihn irgendwann unterbrochen und gemeint hatte: »Bemühen Sie sich nicht weiter, danke.«
Jetzt schilderte Alfred einen Vorfall auf der Highschool, als er aus dem Stegreif über das Thema Musik sprechen sollte.
»Mir ist schlecht«, sagte Alfred. Seine Stimme klang jünger, nicht so tief wie die des erwachsenen Mannes. Sogar die linkische Art, wie sich sein Unterkiefer bewegte, erinnerte Ellen an einenTeenager. »Ich muss über Musik reden. Musik. Was genau ist Musik eigentlich? Töne und so ein Mist? Mir fällt absolut nichts ein, was ich dazu sagen könnte. Alle starren mich an. Sie halten mich für einen Idioten. Ich bin ein Idiot.«
»Wo spüren Sie Angst?«
»Hier.« Alfred legte seine Hand auf seinen Bauch. »Ich muss mich übergeben. Tatsache. Ich werde das ganze Klassenzimmer vollkotzen.«
Ellen sah ihren Patienten sichtlich unbehaglich an, sie spürte, wie ihr selbst schlecht wurde.
»Wir werden dieses Gefühl wie eine Brücke benutzen«, sagte sie mit fester Stimme. »Und wir werden über diese Brücke dorthin gehen, wo du zum allerersten Mal dieses Gefühl gehabt hast.«
Sie war auf der Suche nach dem »Initial Sensitizing Event«, wie es im Fachjargon hieß, jenem Erlebnis in frühester Kindheit oder Jugend also, in welchem die Ursache für das heutige Problem des Patienten zu suchen war.
»Ich werde jetzt rückwärts von fünf bis eins zählen, und Sie werden mit jeder Zahl ein Stück weiter in die Vergangenheit reisen. Fünf – Sie werden jünger, kleiner … vier – Sie folgen diesem Gefühl … drei – Sie sind fast da … zwei, eins.«
Ellen beugte sich vor und tippte Alfred mit dem Fingernagel ganz leicht an die Stirn. »Du bist jetzt da.« Sie wartete einen Augenblick. »Wo bist du?«, fragte sie dann.
»In der Vorschule«, antwortete Alfred.
Ellen rieselte es kalt den Rücken hinunter, als sie seine Stimme hörte. Sie staunte jedes Mal aufs Neue über diese unfassbare innerliche Verwandlung. Vor ihr saß ein zweiundfünfzigjähriger Mann, aber sie redete mit einem kleinen Kind.
»Wie alt bist du?«
Alfred hielt eine Hand hoch, den Daumen an die Innenseite gelegt.
»Vier?«, fragte Ellen.
Alfred nickte schüchtern.
»Was passiert jetzt, Alfred?«
»Wir müssen still sein, aber Pam in der Leseecke weint. Sie ist ganz arg traurig. Ich möchte sie aufheitern, deshalb werde ich ihr etwas schenken.«
»Ah, das ist eine gute Idee. Was willst du ihr denn schenken?«
»Meine
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