Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
heruntergefallen und aufgeplatzt waren. Ihr Inhalt hatte sich in wildem Durcheinander auf dem Fußboden verteilt: ein alter, schmutziger Turnschuh, CDs, die aus ihren Hüllen gerutscht waren, verhedderte Elektrokabel, ein Reisehaartrockner, Weihnachtsdekorationen, eine Bratpfanne, ein Spielzeugauto, ein dickes Fotoalbum, eine alte Kehrschaufel, Münzen, Quittungen … Krempel eben.
Ellen stieg über die Sachen und hob einen der Kartons hoch. Auf die Seite hatte Patrick sorgfältig »Verschiedenes« geschrieben. Ellen lachte auf. Es hätte ein zärtliches, liebevolles Lachen über ihren zwar nicht perfekten, aber liebenswerten künftigen Mann sein sollen, doch es wurde ein hässliches, bitteres, so als wäre sie seit vielen Jahren unglücklich verheiratet, und das hier wäre der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
»O nein, bitte nicht!«, jammerte sie eine Sekunde später. Schon brach der Boden des Kartons durch, und die nächste Lawine von »Verschiedenem« krachte auf den Fußboden.
Ellen ließ die verstaubten Reste des Pappkartons fallen und stampfte mit dem Fuß auf. Ihr schönes Zuhause! Es würde unter einem Berg von Müll und Schrott verschwinden. Zorn stieg inihr auf, befiel sie wie ein lästiger Juckreiz, so als krabbelten winzige Käferchen über ihren ganzen Körper, und sie kratzte heftig an ihrem Handgelenk.
Deine Reaktion ist maßlos überzogen. Tief durchatmen! Ein und wieder aus. Stell dir vor, ein weißes Licht strömt …
»Halt die Klappe! Halt die Klappe! Halt verdammt noch mal die Klappe!«, schrie sie in den leeren Gang.
Sie schaute sich hektisch nach irgendetwas um, das sie ablenken könnte, als ihr Blick auf das Fotoalbum fiel, und sie bückte sich danach.
Auf dem ersten Foto war ein unglaublich junger Patrick in einem weißen Hemd mit bauschigen Ärmeln zu sehen. Ein blondes Mädchen saß auf seinem Schoß. Die Beine ihrer weißen Jeans steckten in Stiefeln, ihr Oberteil hatte Schulterpolster, orangerote Federn baumelten an ihren Ohrringen. Patrick und Colleen. Junge Liebe in den späten Achtzigern.
Ellen blätterte weiter.
Auf jedem Foto posierte Colleen für den Fotografen, vermutlich Patrick. Hände auf den Hüften, Schmollmund, die Augen weit aufgerissen, haltlos kichernd.
Ellen hatte mit siebzehn ganz ähnliche Ohrringe besessen, aber sie hätte nie das Selbstbewusstsein gehabt, für ihren Freund solche Posen vor der Kamera einzunehmen. O ja, du bist wirklich eine heiße Braut , giftete ihr siebzehnjähriges Ich gehässig.
Ellen! , sagte ihr besseres Ich tadelnd. Was ist denn los mit dir? Sie ist ein junges Ding! Siebzehn Jahre alt. Sie wird jung sterben. Sei nicht so hart zu dem armen Mädchen.
Sie blätterte um.
»Oh, du gütiger Himmel!«, murmelte sie, diesmal mit der Stimme ihrer Großmutter.
Nacktfotos von Colleen füllten die Seiten. Die blonden feuchten Haare klebten ihr am Kopf, so als käme sie gerade vom Duschen. Ohne Kleidung und Frisur sah sie ganz anders aus, nicht mehr so albern, wie das bei Leuten auf alten Aufnahmen oft der Fall ist,weil Kleidung und Haarschnitt aus der Mode gekommen sind. Sie war mehr als nur ein hübsches Mädchen – sie war eine klassische Schönheit mit hohen Wangenknochen und großen Augen. Ellen betrachtete jedes einzelne Foto ganz genau. Sie verspürte leichte Übelkeit und zugleich eine seltsame Erregung. Colleens Körper war perfekt proportioniert, schlank und an den richtigen Stellen weiblich gerundet. Sie hätte ein Fotomodell sein können.
Die Fotos hatten nichts Pornografisches. Sie strahlten eine unschuldige Sinnlichkeit aus. Ellen konnte die reine, ungetrübte Intensität erster Liebe förmlich spüren. Eine besonders schöne Aufnahme zeigte Colleen nackt auf einem Bett liegend, die Augen geschlossen, Sonnenstrahlen fielen auf ihr Gesicht. Ellen versuchte sich auszumalen, was in Patrick, einem geilen Teenager, beim Anblick dieses bildschönen Mädchens vorgegangen sein musste. Ellen war ein attraktiver Teenager gewesen, ein hübsches Mädchen, aber sie hatte nie einen Körper wie diesen gehabt, und jetzt begann ihre Haut zu altern, und ihr Körper wurde füllig durch die Schwangerschaft. In diesem Moment empfand sie nichts als heftigen Neid. Sie wünschte, sie wäre dieses junge Mädchen, das nackt auf einem Bett lag, das Gesicht von der Sonne liebkost, aber die Wahrheit war, dass sie nie ein solches Mädchen gewesen war und es nie sein würde.
Hör auf, dir diese Fotos anzusehen , sagte sie zu sich. Das sind
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