Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
auslösen können. Der Augenblick war vergleichbar jenem, in dem ein Superheld im Film seine übernatürlichen Kräfte entdeckt. So, hatte sie damals gedacht, muss sich auch eine Nonne fühlen, wenn sie zum ersten Mal die geheimnisvolle, charismatische Stimme Gottes etwas in ihr jungfräuliches Ohr flüstern hört.
Deborah, die Augen geschlossen, die Wangen leicht gerötet, nickte zum Zeichen dafür, dass sie ihren perfekten Moment gefunden hatte. Ellen fragte sich eine Sekunde lang, woran sie wohl denken mochte.
»Ich möchte, dass Sie das Gefühl, an das Sie sich jetzt gerade erinnern, jederzeit heraufbeschwören können, wann immer Sie es brauchen. Jedes Mal, wenn Sie Ihren Daumen in Ihre rechte Handfläche drücken, können Sie dieses Gefühl wachrufen. Je fester Sie drücken, desto stärker wird dieses Gefühl, bis es wie Elektrizität durch Ihren Körper fließt.«
Ellen hatte ihre Stimme im gleichen Maße gehoben, wie Deborah den anschwellenden Strom von Kraft und Energie in ihrem Körper fühlen sollte.
»Wenn Sie das nächste Mal Schmerzen haben, dann machen Sie Folgendes: Zuerst drosseln Sie Ihre Schmerzen mithilfe des Schmerzschalters, und dann drehen Sie an Ihrem Energieschalter, um dieses Gefühl der Stärke aufleben zu lassen.«
Ein zögerlicher Ausdruck huschte über Deborahs Gesicht. Ellen schlug sofort einen autoritäreren Ton an: »Sie haben die Fähigkeit dazu. Sie haben alles, was Sie dazu brauchen, in sich. Sie werden diese Methoden meisterlich beherrschen. Sie können sich von Ihren Schmerzen befreien. Sie können sich von Ihren Schmerzen befreien. «
Nach ein paar Minuten holte sie Deborah aus ihrem Trancezustand zurück. Sie blinzelte desorientiert, ihr war Blick verschwommen und trübe, wie der eines Flugpassagiers, der eingeschlafen ist und wieder zu sich kommt. Sie schaute auf ihre Uhr, fuhr sich dann mit beiden Händen durch die Haare und sagte: »Ich war die ganze Zeit voll da.« Mit einer brüsken Bewegung zog sie ihre Brieftasche aus ihrer Handtasche. Ellen nickte nur und schob ihr die Schale mit dem Konfekt hin.
Als Deborah wenig später von Ellen zur Tür begleitet wurde, sagte sie versonnen, während sie sich darauf konzentrierte, ihren Mantel zuzuknöpfen: »Wissen Sie, es könnte tatsächlich sein, dass Sie mich gesund machen.«
»Ich kann Sie nicht gesund machen«, widersprach Ellen. »Die körperlichen Ursachen, welche es auch sein mögen, werden nach wie vor vorhanden sein. Aber ich kann Ihnen helfen, Wege zu finden, mit den Schmerzen umzugehen.«
»Das habe ich schon verstanden, aber ich glaube, es könnte tatsächlich funktionieren «, sagte Deborah. Der Ausdruck ehrfürchtigen Staunens auf ihrem Gesicht erinnerte Ellen an den Gesichtsausdruck ihrer Großmutter so viele Jahre zuvor.
Ellen lächelte, als sie an diesen Augenblick mit Deborah zurückdachte. Das war berufliche Erfüllung.
Sie schlug ihren Terminkalender auf. Ihr Lächeln verschwand, als sie sah, wer ihr letzter Patient an diesem Tag war: Mary-Kate McMasters. Na ja, heute würde sie keine ehrfürchtig staunenden Blicke mehr ernten.
Sie schaute flüchtig auf ihre Uhr. Vielleicht sagte Mary-Kate noch ab. Sie hatte schon dreimal in letzter Minute angerufen, weil sie nicht aus dem Büro wegkam. Sie war Anwaltssekretärin, und wenn sie anrief, um ihren Termin abzusagen, hörte sie sich immer ganz atemlos an, als ob sie so wichtig wäre, dass die Anwaltskanzlei nicht ohne sie lief.
Ellen tadelte sich für diesen unfreundlichen Gedanken. Vielleicht war Mary-Kate ja tatsächlich unersetzlich. Und sie bestand jedes Mal darauf, die Gebühr zu bezahlen, die Ellen auf ihrer Preisliste für kurzfristige Terminabsagen verlangte. Ellen selbst setzte diese Forderung allerdings nie durch. Sie hasste es, Geld anzunehmen, ohne etwas dafür getan zu haben.
Die Türklingel ertönte. Ellen fluchte, als hätte sie sich den Zeh gestoßen. Sie war sauer, wenn Mary-Kate absagte, und sie war sauer, wenn sie kam. Aus irgendeinem Grund war ihr diese arme, traurige Frau zutiefst unsympathisch. Woher kam das? Sie hatte doch schon andere Patienten gehabt, die ihr auf die Nerven gingen, und manche Patienten mochte sie mehr als andere, aber sie hatte nie zuvor einen so instinktiven Widerwillen einem Patienten gegenüber verspürt.
Sie musste aufpassen, damit ihre Abneigung nicht Mary-Kates Therapie beeinflusste, das wäre unverantwortlich.
Sie rief sich den buddhistischen Lehrsatz Wir sind alle eins ins Gedächtnis. Sie war
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