Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
sie körperlich fühlte wie einen Ernährungsmangel.
Ich flog am Freitag mit der ersten Maschine nach Sydney zurück, mich an den Armlehnen festklammernd und nach vorn gebeugt, als könnte ich das Flugzeug durch schiere Willenskraft dazu bringen, schneller zu fliegen. Ich war wie ein Vampir, der dringend neues Blut brauchte.
Es war Freitagnachmittag, und Ellen legte zwischen zwei Terminen eine kleine Pause für ein paar Atemübungen und positive Gedanken ein.
Ihr stand ein stressiges Wochenende bevor.
An diesem Abend würde sie Patrick ihrer Mutter und ihren Patentanten vorstellen, und am darauffolgenden Abend waren sie bei Patricks Eltern eingeladen. Am Sonntag würde Patrick Julia kennenlernen. Sie hatten sich zu fish and chips in Watsons Bay verabredet. Patricks Freund Stinky würde ebenfalls kommen, nicht nur, um Ellens Bekanntschaft zu machen, sondern auch, um vielleicht mit Julia verkuppelt zu werden. Sein Name verhieß allerdings nichts Gutes. (»Er stinkt nicht wirklich«, hatte Patrick lachend erklärt. »Wir nennen ihn bloß so.« »Wieso das denn?«, hatte Ellen gefragt, aber Patrick hatte bloß gelacht. Männer benahmen sich manchmal schon merkwürdig.)
Es war nicht geplant gewesen, dass sie ihre Verwandten und Freunde an aufeinanderfolgenden Tagen kennenlernten. Es hatte sich einfach so ergeben, nicht zuletzt deshalb, weil Ellens Mutter plötzlich das Abendessen verschoben hatte und Stinky überraschend übers Wochenende nach Sydney kam.
Ellen graute vor diesem Wochenende wie vor einer ganzenWoche voller Prüfungen und Zahnarzttermine. Ihr war sogar ein bisschen schlecht gewesen, als sie am Morgen aufgewacht war. Es kam ihr so vor, als würden jede Menge Menschen mitten durch ihre zarte, neue Beziehung trampeln, ungefragt ihre Meinungen äußern, Fragen stellen, Fehler zutage fördern. Patrick und Ellen würden sich durch die Augen anderer sehen, durch die Augen von Menschen, die in ihrem Leben wichtig waren. Ihre Sichtweise würde wie grelle Scheinwerfer, deren Licht wenig schmeichelhaft war, jede dunkle Ecke gnadenlos ausleuchten.
Einatmen.
Es interessierte sie nicht die Bohne, was andere dachten!
Ausatmen.
Quatsch. Es interessierte sie einen ganzen Bohnenstrauch. Sie wollte, dass jeder, den sie mochte, auch Patrick liebte und dass jeder, den er mochte, auch sie liebte.
Einatmen. Ausatmen. Ein…
»Ach, vergiss es«, sagte sie laut.
Statt sich weiter zu bemühen, Zugang zu ihrem höheren Selbst zu erlangen, nahm sie sich ein Konfekt aus ihrer Silberschale und ließ es langsam im Mund zergehen. Die Schokolade diente therapeutischen Zwecken. Sie setzte im Gehirn Botenstoffe wie Endorphine und Serotonin frei und machte dadurch gute Laune, ja sie konnte sogar einen Zustand der Euphorie herbeiführen. Was, wie Julia immer sagte, bloß eine umständliche Art war zu sagen, dass Schokolade köstlich schmeckte.
Ellen machte einen Moment die Augen zu. Sie spürte die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht. Sie saß in dem Ruhesessel, in dem normalerweise ihre Patienten Platz nahmen. Sie saß oft hier und versuchte sich vorzustellen, wie es sein mochte, ihr gegenüberzusitzen. Schnappten sie manchmal etwas von ihren Zweifeln oder, schlimmer noch, von ihrer Eitelkeit auf? Sah sie blöd aus mit ihren professionell elegant übereinandergeschlagenen Beinen? Konnte man im Gegenlicht die Härchen und Fältchen rings um ihren Mund erkennen?
Sie ging jede Wette ein, dass Patrick bei der Arbeit, wenn er sich hinunterbeugte und, den einen Arm in die Höhe gestreckt, durch seinen Theodolit schaute, keine Momente der Unsicherheit kannte. In einem »nicht klar definierten« Beruf wie ihrem, den manche Leute immer noch in einem Atemzug mit Zauberern, Wunderheilern oder Scharlatanen nannten, war das etwas anderes. Einmal hatte sie eine alte Freundin getroffen, die ehrlich überrascht gesagt hatte: »Machst du etwa immer noch dieses Hypnosedingsda?« Als ob es sich um eine lustige kleine Phase in ihrem Leben gehandelt hätte. »Das ist mein Beruf«, hatte Ellen geantwortet, aber die Freundin, eine Firmenanwältin, dachte, sie mache einen Witz, und lachte höflich.
Dabei war es mehr als nur ein Beruf. Es war Ellens Leidenschaft, ihre Berufung, ihre Bestimmung.
Der Ruhesessel war noch warm von der letzten Patientin, Deborah Vandenberg, die Frau, die unerklärliche rasende Schmerzen in ihrem rechten Bein bekam, wenn sie länger als zehn Minuten ging. Sie hatte alles ausprobiert, war bei Physiotherapeuten und
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