Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
Ich bin nach Avalon gefahren. Dort war ich noch nie, folglich warteten dort auch keine Erinnerungen auf mich. Ich habe es letzte Nacht mit Erinnerungen derart übertrieben, dass mir schlecht davon wurde. Ich habe eine Überdosis Erinnerungen genommen.
Nachdem ich bei Patricks Eltern war, bin ich nicht mehr zu der Bürofeier gefahren. Vielleicht habe ich von Anfang an gewusst, dass ich nicht zu der Party gehen würde. Partys sind nicht mein Ding. Ich bin sechs Stunden lang herumgefahren und habe nur ein einziges Mal angehalten, um zu tanken und mir eine Flasche Wasser zu kaufen.
Ich bin an jeden Ort gefahren, den ich irgendwann einmal mit Patrick aufgesucht hatte.
Ich bin mindestens dreißigmal in beiden Richtungen über die Harbour Bridge gefahren. Ich war am Anfang so verliebt in diese Stadt. Sydney! Der Name klang so aufregend für mich, wie New York vielleicht für andere, mondänere Leute klingt, für Leute, die nicht in einer winzigen Kleinstadt mitten in Tasmanien aufgewachsen sind.
»Sie kommen aus Tasmanien?«, haben mich die Sydneyer immer gefragt, eine Braue hochgezogen und ein angedeutetes Lächeln auf den Lippen, als ob sie sagen wollten: »Wirklich? Von diesem entzückenden kleinen Inselchen?« Und ich zog jedes Mal demütig den Kopf ein, als müsste ich mich dafür entschuldigen: Ich kann wirklich nichts dafür . Doch das hat sich geändert. Jetzt murmeln die Leute: »Oh, Tasmanien! Ein wunderschönes Land.« Ich weiß nicht, ob ich mich verändert habe oder Tasmanien.
Sydney ist mein toller, protziger, schmuckbehängter, Kreditkarten zückender Exlover. Sydney blendete mich mit seinen Stränden und seinen Bars und seinem Sonnenschein, mit seinen Restaurants und seinen Cafés und seiner Musik und diesem großen, harten,glitzernden Saphir von einem Hafen. Ich war besessen davon, alles über diese Stadt herauszufinden, wie ein dummes, heillos verknalltes Mädchen alles über seinen neuen Freund wissen will. Ich kenne mich in Sydney besser aus als jeder Sydneysider oder Taxifahrer. Ich weiß, wo es das beste Yum-cha, das beste Sushi oder die besten Tapas gibt. Ich kenne alle Theater und Museen und angesagten Kneipen. Ich weiß, wo man schnorcheln, den Busch erkunden, parken kann. Ich war erst sechs Monate in Sydney, als ich Patrick kennenlernte, und obwohl er nie woanders gelebt hat, kannte er nicht einmal die Hälfte aller Örtlichkeiten, die ich mit ihm besuchte.
Patrick und Sydney schenkten mir die schönste, glücklichste Zeit meines Lebens. Wir küssten uns auf den Fähren und tranken Champagner am Hafen. Wir gingen ins Theater und ins Kino und zu Konzerten. Wir unternahmen mit Jack, der aus Patricks Rückentrage auf mich heruntergrinste, lange Wanderungen durch das grüne, gesprenkelte Licht der Nationalparks. Wir nahmen ihn am Strand in unsere Mitte, fassten ihn an den Händen, riefen »Eins, zwei, drei !« und rissen ihn hoch, sodass er über die Wellen segelte, die um unsere Knöchel schäumten.
Ich war so verliebt in die beiden. Ich weiß noch, wie ich zu meiner Mutter sagte: »Ich hätte nie gedacht, dass es so leicht sein kann, so unglaublich glücklich zu sein.« Und sie antwortete jedes Mal: »Es macht mich glücklich, wenn du das sagst.«
Ich stellte mir vor, wie sie lächelte, während sie mit einem Geschirrtuch und einem Reinigungsspray energisch ihre Küche schrubbte. Es war immer Mums größter Wunsch, dass ich glücklich war.
Ich dachte, sie sei auf geradezu unheimliche Weise selbstlos, doch dann, als ich anfing, mich um Jack zu kümmern, bekam ich eine Ahnung davon, wie die eigenen Stimmungen von denen des Kindes, um das man sich kümmert, diktiert wurden und wie das möglicherweise zu einer Gewohnheit wurde.
Ich erinnere mich, wie sie mich einmal fragte: »Glaubst du,Patrick ist genauso glücklich wie du?«, und wie ich erwiderte: »Natürlich ist er genauso glücklich wie ich.« Ein Schweigen trat ein, und dann sagte sie ganz behutsam und vorsichtig: »Er hat seine Frau vor noch nicht einmal einem Jahr verloren. Er wird immer noch um sie trauern, Saskia, so etwas dauert sehr lange, vielleicht … vielleicht solltest du das im Hinterkopf behalten.«
Sie wusste, wovon sie redete, weil mein Vater starb, als ich noch ganz klein war. Ich kann mich überhaupt nicht an ihn erinnern. Ich leide ganz sicher nicht an irgendwelchen unterdrückten Verlustängsten.
Mein Vater war für meine Mutter die Liebe ihres Lebens, wie sie selbst sagte, und ich weiß, dass sie ihn ihr Leben lang
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