Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
laut schluchzen sollen. Ich hätte wimmern und mir an die Brust schlagen und mich über ihren Sarg werfen sollen.
Stattdessen habe ich ein Gedicht vorgetragen. Ein hübsches, anrührendes Gedicht, das ihr sicher gefallen hätte. Ich hätte etwas mit meinen eigenen Worten sagen sollen. Ich hätte sagen sollen: Niemand wird mich jemals so innig lieben wie meine Mutter. Ich hätte sagen sollen: Ihr glaubt alle, ihr seid auf der Beerdigung einer lieben, kleinen alten Dame, aber ihr seid auf der Beerdigung eines Mädchens namens Clara, das seine langen blonden Haare zu einem dicken, schweren, bis zur Taille reichenden Zopf geflochtenund sich in einen schüchternen Bahnangestellten verliebt hatte. Viele Jahre versuchten sie vergeblich, ein Baby zu bekommen, und als es dann endlich klappte, tanzten sie vor Freude durchs Wohnzimmer, aber ganz behutsam, damit das Baby keinen Schaden nahm. Die ersten beiden Lebensjahre ihres kleinen Mädchens waren die glücklichste Zeit in Claras Leben, aber dann starb ihr Mann, und sie musste das kleine Mädchen allein großziehen, und damals gab es noch keine Zuschüsse für alleinerziehende Mütter, damals gab es noch nicht einmal den Begriff »alleinerziehende Mutter«.
Ich hätte erzählen sollen, wie Mum zur Schule kam und mir eine warme Jacke brachte, wenn es kälter als erwartet geworden war. Ich hätte erzählen sollen, dass sie Brokkoli so inbrünstig hasste, dass sie nicht einmal seinen Anblick ertrug, und dass sie für den Helden der englischen Fernsehserie Judge John Deed schwärmte. Ich hätte erzählen sollen, dass sie schrecklich gern las und dass sie eine miserable Köchin war, weil sie gleichzeitig zu kochen und zu lesen versuchte, und das Essen brannte immer an, und das Buch aus der Leihbücherei war immer mit Essensspritzern bekleckert, die sie dann mit dem feuchten Zipfel eines Geschirrtuchs wieder abzutupfen versuchte. Ich hätte erzählen sollen, dass meine Mutter Jack als ihren Enkel betrachtete und dass sie ihm eine Decke nähte, auf der Rennautos zu sehen waren und die er über alles liebte. Ich hätte reden und reden und reden und das Chorpult mit beiden Händen umklammern und sagen sollen: Sie war nicht nur eine kleine alte Dame. Sie war Clara. Sie war meine Mutter. Sie war ein wunderbarer Mensch.
Stattdessen sagte ich mein kurzes, annehmbares kleines Gedicht auf, und dann setzte ich mich wieder neben Patrick und ergriff seine Hand, und später half er mir, Mums Freunden Tee zu servieren, und er unterhielt sich so nett mit den alten Damen, und ich habe nicht ein einziges Mal gedacht: Ich habe keine Familie mehr, weil Patrick ja da war und meine Hand hielt. Und am Flughafen von Sydney würde Jack auf uns zustürmen, und Patricks Mutterwürde eine große Schüssel Bœuf Stroganoff in den Kühlschrank stellen, weil sie wusste, dass das mein Lieblingsessen war.
Vier Wochen später sagte er: »Ich glaube, es ist vorbei.«
Meine Gedanken drehten sich in einer Endlosschleife. Wenn ich Mum anrufe und ihr von Patrick erzähle, werde ich mich besser fühlen, aber Mum ist tot. Wenn ich zu Patrick sage, ich kann nicht glauben, dass meine Mum nicht mehr da ist, werde ich mich besser fühlen, aber Patrick will mich nicht mehr. Wenn ich mit Jack in den Park oder ins Kino gehe, werde ich mich besser fühlen, aber ich bin nicht mehr seine Mutter. Wenn ich Maureen besuche, werde ich mich besser fühlen, aber sie gehört nicht mehr zu meinem Leben.
In meinem Leben gab es nicht genug Menschen, die den Verlust so vieler geliebter Menschen auf einmal hätten auffangen können. Ich hatte weder Tanten noch Cousins oder Cousinen noch Großeltern. Ich hatte keinerlei Rückhalt. Ich hatte keine Versicherung, die einen Verlust solchen Ausmaßes abgedeckt hätte.
Der Schmerz war greifbar, es fühlte sich an, als ob mir die Haut in Fetzen vom Leib gerissen worden und die Wunden nie wieder verheilt wären.
Und jetzt erwartet die Hypnotiseurin ein Kind.
Ich weiß, Mum, ich habe eine gute Stelle, und ich werde dafür bezahlt , aber seit ich die positiven Schwangerschaftstests der Hypnotiseurin gesehen habe, gehen mir im Büro diese sonderbaren Bilder durch den Kopf. Manchmal stelle ich mir vor, wie ich einem Kollegen einen Becher brühend heißen Kaffee ins Gesicht schütte oder wie ich mir die Kleider herunterreiße und nackt in den Konferenzsaal laufe und obszöne Beschimpfungen schreie oder wie ich mir eine Schere immer und immer wieder in den Oberschenkel ramme. Du würdest das nicht
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