Alles außer Mikado: Leben trotz Parkinson (German Edition)
wie ein brüllender Löwe …
Dich brauche ich, einen Menschen, der so laut klagen kann, dass es in den Himmeln widerhallt, wo Gott sich mit dem Satan beratschlagt, um Pläne gegen einen Menschen zu machen! Klage, der Herr fürchtet sich nicht, er kann sich wohl verteidigen, aber wie könnte er sich verteidigen, wenn keiner zu klagen wagt, wie es einem Menschen geziemt!
Rede, erhebe deine Stimme, rede laut, Gott kann noch lauter sprechen, er hat ja den Donner!« 12
Warum verbirgt man uns das?
Warum hat man uns die Geschichten von Verzweiflung und gescheiterter Gottessuche, von abgründiger Klage und Resignation vorenthalten? Die Bibel jedenfalls dokumentiert ebenso viel Zweifel und Verzweiflung wie Heil und Heilung. Kierkegaard beklagt die Schönfärberei eines vermeintlich harmonischen Christentums, das alle irgendwie glücklich macht.
Hiob hört nicht mehr auf seine altklugen Freunde. Er flüchtet sich zu Gott und verhandelt weiter mit ihm: »Der Allmächtige gebe mir Antwort! « Hiob will es wissen! Er hat den Glauben seiner frommen Freunde überholt.
Und Hiob bekennt: »Ich erkenne, dass du alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen, ist dir zu schwer … Darum habe ich unweise geredet … Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche« (Hiob 42,2–6).
Bisher hatte er Gott nur vom Hörensagen, also aus zweiter Hand gekannt. Nun ist er durch alles Leid hindurch zu einer größeren Gotteserkenntnis gekommen, zu einer ganz persönlichen. Das Leiden, Klagen und Mit-Gott-Argumentieren hat ihm eine ganz persönliche Nähe zu Gott verschafft, eine vertraute Beziehung. Hiob ist wieder in der Lage, alle Ereignisse von Gott her deuten zu können.
Wäre das nicht eine tragfähige Lebensphilosophie? Alle schönen und alle schweren Ereignisse von Gott her sehen zu können? Zu wissen, dass er alle Umstände und Zustände gebrauchen kann, um mein Leben zu segnen, zu formen und belastbar zu machen?
Das gängige Lohn- und Strafschema reicht nicht aus, um das Leiden dieser Welt zu deuten. Nicht alle Übel auf Erden sind von Menschen verschuldet. Krankheit, Alter und Sterben sind biologische Gegebenheiten und gehören zu unserer Existenz. Parkinson führt nicht zum Tod, aber die Krankheit weckt Sehnsucht nach Erlösung.
Ich betrachte meine neurologisch-chronische Erkrankung als Ausdruck einer zunehmend dementen Gesellschaft. Dass es mich relativ früh getroffen hat, ist weder ein Zeichen des Unglücks noch ein Erweis von Glück. So weit bin ich noch nicht, dass ich in dieser heimtückischen Krankheit ein Glück vermuten könnte. Obwohl mir mal ein guter Freund gesagt hat, dass ich schnurstracks in einen Burn-out gelaufen wäre, wenn mich Parkinson nicht zu einem reduzierten Tempo gezwungen hätte.
Wer das Wunder des Lebens im Antlitz eines Neugeborenen bestaunt, der freut sich des Lebens. Aber er fügt sich auch dem Lauf unserer physischen Existenz und stellt sich nüchtern auf das furchige und zitterige Antlitz eines reifen Lebens ein, das dem Ende entgegengeht. Warum sollte ich länger leben, als es biblisch prognostiziert ist?
»Das Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s 80 Jahre« (Psalm 90,10).
Also: Unglück ist nicht immer eine Quittung für Schuld und Rechtschaffenheit kein Garant für Glück. Ich kann aber auch leidvolle Erfahrungen für mich als Lektion Gottes begreifen. Wenn ich durch ständige körperliche und geistige Überlastung krank werde und mir eines Tages die Sicherungen durchbrennen, dann kann ich dies sehr wohl als eine ernste Lektion Gottes begreifen. Was wir säen, das werden wir ernten.
Die Frage »Wo war Gott in den schlechten Zeiten?« ist die falsche. Die richtige Frage lautet: »Wo waren wir in den guten Zeiten?«
11 Paul Gerhardt, »Nun ruhen alle Wälder«, Strophe 8
12 Zitiert nach Helmut Lamparter, »Buch der Anfechtung«, Calwer Verlag, Stuttgart, 1955, S. 44–46
19.
Wo war ich?
Die Frage lautet nicht: Wo war Gott, als Herr P. sich in meinem Hirn gemütlich eingerichtet hat? Sondern: Wo war ich die ganze Zeit? Das ist die Frage, die weiterhilft. Im Elfenbeinturm einer korrekten und plausiblen Theologie und Philosophie? Hans im Glück? Immer auf Erfolgskurs? Weit weg von Jammer und Klage einer so reichen, aufgeklärten und doch so haltlosen Gesellschaft? Zu weit weg von den Abgründen menschlicher Verzweiflung, frühzeitig aller Zweifel
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