Alles außer Sex: Zwischen Caipirinha und Franzbranntwein (German Edition)
getrennte Wohnungen aufzusuchen. Wir hatten einfach keine Kraft mehr für sportliche Höchstleistungen.
In der Wohnung über mir hörte ich schwere Schritte und dumpfe Bässe. Carsten war schon wach und scheinbar fit. So sehr ich ihm seine morgendliche Energie neidete, so froh war ich, dass er mich mit meinem kürbisgroßen Kopf, geschwollenem Gesicht und übler Laune nicht sehen konnte.
Chica meckerte jetzt mit Nachdruck und klang wie ein aufgebrachtes Zicklein. In meinem Kopf arbeitete jemand mit einem Vorschlaghammer. Ich musste aufstehen. Genau für diesen Tag hatte ich mir vorgenommen, am Text für mein neues Comedy-Stück zu feilen. Ich warf mir zwei Aspirin ein und meinen verbeulten Kuschelhausanzug an, beruhigte Chica, die mir ständig zwischen den Beinen herumlief, mit einer großen Portion Futter, fuhr schon mal den PC hoch und schleppte mich zum Zähneputzen ins Bad. Beim Blick in den Spiegel hatte ich eine lustige Idee für ein neues Lied. Es bestätigte sich mal wieder die Theorie, dass es einem Künstler richtig beschissen gehen muss, damit er kreativ sein kann.
»Ich würd’ gern brechen, wenn ich früh in Spiegel seh’/geschwoll’ne Augen, Falten bis ins Dekolletee, /die Haare filzig, der Blick leicht debil. /Es ist ein Trauerspiel!«
So ein Einfall ist besser als jeder Orgasmus, dachte ich. Tralalalala!
Nachdem ich die Zeilen in den Laptop getippt hatte, war es vorbei mit »Tralalala«, mir fiel nichts mehr ein, obwohl ich mich immer noch hundeelend fühlte.
»Guten Morgen, Liebling!« Carsten stand in der Tür und sah aus wie das blühende Leben.
»Hallo, Süßer! Alles schick?« Meine Stimme klang, als hätte ich eine Kröte verschluckt.
»Ich wollte nur schnell nachfragen, was wir heute für einen Plan haben.«
Ich stellte mich auf den Stuhl und küsste mein Energiebündel auf die Stirn.
»Ich wollte heute eigentlich kreativ sein, das funktioniert aber nach der Party nicht. Darum werde ich wegen der Brillen für die Show zum Optiker fahren!«
»Sag Bescheid, wann du losfährst, ich habe Lust, mitzukommen!«, sagte Carsten mit glasklarer, jugendlicher Stimme. Dann verschwand er.
Erstaunlich. Er war doch am Vortag auch ganz schön betrunken gewesen!
Zwei Stunden später wühlte ich in Optiker Bernhards Altbrillensammlung, während Carsten seine Augen überprüfen ließ. Ich weiß nicht mehr genau, ob er aus Langeweile auf diese Idee kam oder seine Fehlsichtigkeit bereits alltagsbehindernde Ausmaße angenommen hatte. Gesagt hatte Carsten vorher jedenfalls nichts.
Ich fand in Bernhards großer Altbrillensammlung zwei Comedy-kompatible Exemplare: ein extrem hässliches farbloses Siebziger-Jahre-Modell und ein schwarzes, intellektuell wirkendes Nasenfahrrad mit runden Gläsern. Mit beiden Brillen sah ich extrem bescheuert aus und war somit zufrieden.
Ähnlich doof sah auch Carsten aus, der in der Ecke des Optikerladens ein ebenfalls schwarzes Brillengestell auf der Nase trug. Bernhard setzte routiniert verschiedene Gläser vor Carstens Augen, ließ ihn Zahlen und Buchstaben vorlesen und versuchte so, den Grad seiner Fehlsichtigkeit zu ermitteln.
Unsere Freundschaft zu Optiker Bernhard entstand durch mehrere Auftritte, die ich in Beelitz absolvieren durfte. Bernhard ist hier nicht nur für seine Brillen, sondern auch als Kulturförderer bekannt. So holt er regelmäßig mehr oder weniger bekannte Schauspieler, Sänger und Comedians in die Stadt.
»Guck dir das mal an!« Bernhard hielt mir einen kleinen Kassenbon-großen Zettel unter die Nase. Ich sah viele kleine Zahlen und konnte damit nichts anfangen. Mir war zwar klar, dass dies die Ergebnisse von Carstens Sehtest sein mussten, konnte deren Bedeutung aber nicht verstehen.
»Was heißt das?«, fragte ich Optiker Bernhard.
»Das bedeutet, dass du mit einem Maulwurf zusammen bist!«, grinste er, nahm sich aber sofort wieder zurück.
»Nein, nein! Ich wollte damit nur sagen: Carsten braucht dringend eine Brille.«
»Ich brauche wirklich eine Brille, in meinem Alter?«, meldete sich der Maulwurf aus der Testecke im hintersten Winkel des Ladens.
»Ja«, grinste Bernhard breit, »du leidest an einer Jungpresbyopie!«
»Wie bitte?«
»Eine Presbyopie ist wörtlich übersetzt Alterssichtigkeit, also ein allmähliches Nachlassen der Fähigkeit, in der Nähe scharf zu sehen. Mit zunehmendem Alter büßt die Augenlinse an Elastizität ein.«
Also brauchten wir dann auch noch ein Brillengestell für meinen jungen Presbyop. Bernhard
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