Alles außer Sex: Zwischen Caipirinha und Franzbranntwein (German Edition)
schaute Carsten prüfend ins Gesicht, öffnete ein Schubfach und griff zielsicher ein schwarz-weißes, ziemlich gewagtes Modell. Carsten nahm es, schaute in den Spiegel und rief erfreut: »Das isses! Wunderbar!« Stilsicher hatte Bernhard das passende Gestell gefunden.
Drei Wochen später sollte Carstens neue Gleitsichtbrille fertig sein.
Auf der Heimfahrt schwärmte er, wie gut er durch die Testgläser sehen, wie genau er alles lesen konnte und wie er sich auf die schicke Brille freute. Ich stellte – trotz der Aufklärung über den Terminus Presbyopie – keinen kausalen Zusammenhang zwischen schlechtem Sehen und Alterungsprozess, sehr wohl aber zwischen gutem Sehen und galoppierender Hautalterung her. Mich plagte der Gedanke, wie viele Falten er mit seiner neuen Brille an mir entdecken würde.
Das Horrorszenario, dass mein bebrillter Maulwurf bei meinem Anblick jegliche Lust auf eine Hochzeit verlieren könnte, ging mir in den darauffolgenden Tagen nicht mehr aus dem Kopf. Als dann auch noch meine Mutter anrief, war ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Es war Samstag früh. Staub tanzte im einfallenden Frühlingssonnenlicht, und hässliche Putzstreifen wurden auf dem gläsernen Küchentisch sichtbar. Ich ließ mich von der Unsauberkeit nicht provozieren, tüftelte an meinem allmorgendlichen Sudoku und übte mich in Selbsttoleranz, was meine Putzleistungen betraf. Das Telefon klingelte.
»Na, Tati, ist mit Carsten alles in Ordnung?«
»Ja, Mama, mir geht es gut! Hat dir der Geburtstag gefallen? Hast du dich wohlgefühlt?«
»Das habt ihr sehr schön gemacht. Papa hat gar nicht gemeckert!«
»Das freut mich!«
»Sag mal, Tati«, ich hörte an ihrer Stimme, dass sie mir etwas Wichtiges mitteilen wollte, »wann heiratet ihr denn endlich? Wenn man einen Mann gefunden hat, dann sollte man ihn auch heiraten! Das habe ich mit deinem Papa genauso gemacht, und wir halten es jetzt schon über vierzig Jahre miteinander aus!«
Ich fühlte mich sofort unter Druck gesetzt. Natürlich hoffte ich sehr, dass es mit der Hochzeit an Carstens und meinem dritten Jahrestag klappen würde, aber das sagte ich meiner Mutter lieber nicht.
»Mama, man kann sich lieben, ohne zu heiraten. Wenn eine Ehe so toll und erstrebenswert wäre, würdest du nicht ständig über Papa meckern.«
«Na, ich muss mich doch wenigstens über ihn aufregen, wenn ich ihn schon nicht ändern kann!«
»Deine Logik überzeugt mich!«, lachte ich hektisch in den Hörer. Wahrscheinlich ist Mama wie jede Mutter der Überzeugung, dass ihr Lebenskonzept auch ihre Kinder glücklich machen müsste.
»Ich mache mir einfach Sorgen, Kind. Carsten ist doch viiiiel jünger als du. Ob das gutgeht? Stell dir doch nur mal vor, wie du in zehn Jahren aussiehst, Tati. Dann ist dein Carsten im besten Mannesalter, und du bist schon fast in Rente!«
»Hallo, was heißt hier ›viiiiiel‹? Und außerdem wird Carsten doch auch älter. Das liegt in der Natur der Sache!«, entgegnete ich leicht hysterisch.
Nach dieser Auflehnung meinerseits konterte Mama mit ihrem »Knock-out-Argument«, mit dem Argument ohne Chance auf Widerrede: »Ja, Tati, aber das ist bei Männern nicht so schlimm. Die sehen auch im Alter gut aus!«
Die Realisierung des Umkehrschlusses führte bei mir zu akuter Schnappatmung. Ich rang nach Luft wie in einem Vakuum und sagte mit weinerlicher Stimme: »Aber ich sehe doch noch ganz gut aus für mein Alter, oder?«
Schon im selben Moment hätte ich mich für diesen Satz ohrfeigen können, denn den Spruch »Du siehst ja NOCH gut aus FÜR DEIN ALTER!« sagt man doch nur zu alten Menschen und niemals über sich selbst. Dieser Kommunikationsfehler wurde auch sofort von Mama bestraft.
»Aber wie lange noch, Kind? Denk nur mal an deine große, tiefe Stirnfalte. Wolltest du nicht mal Botox ausprobieren?«
Alles, was ich darauf noch zu sagen hatte, war eine halbherzig gestammelte Rechtfertigung.
»Wie bist du denn heute drauf? Mama! Aber auch wenn ich wollte, das kann ich nicht machen. Carsten hat mir einen langen Vortrag darüber gehalten, dass Botox Nervengift sei und zu Schäden führen könne. Außerdem findet mich mein Carsten schön, sagt er.«
»Ich meine es doch nur gut, Tati!«, verabschiedete sich meine besorgte Mutter.
Nach jedem dieser Gespräche saß der Stachel tiefer, und jedes Mal ereilte mich die diffuse Panik, verlassen zu werden. Mein Kopf sagte mir, dass eine Hochzeit auch keine Garantie dafür sei, dass Carsten für immer bei mir
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