Alles außer Sex: Zwischen Caipirinha und Franzbranntwein (German Edition)
Pendellampen über dem Tisch weggestrahlt. Mit dem Herunterklappen des Computerdeckels sortieren sich meine Gedanken, als ob plötzlich eine unterbrochene Leitung auf Empfang gestellt wird. Ich lehne mich zurück und bin bereit, das Positive meiner Situation zu finden. Komm, Tati, denk nach. Lass dich nicht von überbordenden Gefühlen verwirren, ermahne ich mich. Konzentriere dich!
Mit Depressionen kann man leben. Wenn man sie rechtzeitig entdeckt und behandelt. Das weiß ich seit dem Tod eines sehr bekannten Sportlers. Während dieses Thema quasi vorher totgeschwiegen wurde, nahmen die Medien das Ereignis zum Anlass, jeden – ob er wollte oder nicht – über diese Krankheit zu informieren.
Bandscheibenoperationen führen nicht zwangsläufig in den Rollstuhl. Die Operationsmöglichkeiten haben sich im Laufe der Jahre verbessert. Bestimmt. Und wenn das so ist, kann ich mit Carsten auch glücklich werden.
Karriere um jeden Preis ist mir nicht mehr so wichtig. Eigentlich weiß ich das schon seit meiner Zeit beim Fernsehen, als ich »Delikat – das Quiz zum Osten« und »Tele-Bingo« moderiert habe und gleichzeitig auf verschiedenen Bühnen bis zu einhundert Comedy-Vorstellungen im Jahr spielte. Schon damals musste ich mir eingestehen, überfordert zu sein. Mir war alles zu viel, und ich versuchte kürzer zu treten und auch mal »nein« zu einem Angebot zu sagen. Wahrscheinlich hat mich das – im Gegensatz zu meiner Schwester – vor einem Burn-out bewahrt. Seitdem ist mir klar geworden, dass ich mit weniger Arbeit weder verhungere noch unglücklich werde.
Graue Haare kann man färben, den eingeschlafenen Sexualtrieb wecken oder die freie Zeit mit anderen schönen Dingen ausfüllen; Falten kann man wegspritzen oder ignorieren.
Also Mama: Vorerst kein Grund zur Aufregung!
King of Placebo
Geht doch, Tati! Warum ich meine Ängste bis gerade eben in mich hineingefressen habe, statt wie sonst offen damit umzugehen – ich weiß es nicht. Eigentlich habe ich in meinem Leben bisher eher zu viel als zu wenig kommuniziert, habe mich in problematischen Situationen bedeutend besser gefühlt, wenn ich darüber reden und an den Erfahrungen meiner Freundinnen teilhaben konnte. Egal, ob es um sexuelle Erfahrungen ging, ob mich ein Lebensabschnittsgefährte verlassen hatte, ob ich Eingaben an Behörden schreiben musste – immer standen mir meine Freundinnen mit Rat und Tat zur Seite. Vor jeder großen Entscheidung, die ich treffen musste, habe ich mich mit anderen ausgetauscht oder mich in Zeitungen und Büchern informiert. Bei diesen Überlegungen wird mir plötzlich klar, was ich eigentlich sofort hätte wissen müssen: Mein hysterisches Selbstmitleid und die Angststarre, die mich an den Küchentisch fesselt, kann ich nur bekämpfen, indem ich mich informiere. Die Angst verfliegt im selben Maß, wie ich ihren Ursachen auf den Grund gehe, Umstände und Lösungsmöglichkeiten recherchiere.
Es ist erst 13 Uhr, und ich habe bis zum Abend genügend Zeit zur Angstbekämpfung. Also schubse ich Chica, die schon wieder auf meinem Schoß sitzt, weg, verzichte auf einen Anruf bei Flo, der sich angesichts meiner Probleme sofort wieder krank fühlen würde, kann Doro nicht erreichen, weil wahrscheinlich gerade wieder eine knapp Fünfzigjährige kurzfristig ihre letzte Chance auf eine Entbindung wahrnimmt, und entscheide darum, meinen Computer hochzufahren. Zuerst google ich den Begriff »Burn-out-Syndrom« und lese:
»Die charakteristischen Merkmale sind eine körperliche und emotionale Erschöpfung, anhaltende physische und psychische Leistungs- und Antriebsschwäche sowie der Verlust der Fähigkeit, sich zu erholen. Ebenso ist eine zynische abweisende Grundstimmung gegenüber Kollegen, Klienten und der eigenen Arbeit festzustellen. Burn-out ist nicht nur ein persönliches Problem des Betroffenen, sondern gefährdet aufgrund seiner ›ansteckenden Natur‹ das berufliche Umfeld.«
Eine Theorie sagt: »Nur jemand, der einmal entflammt war, kann auch ausbrennen!«
Ja, meine Schwester war ein entflammtes junges Mädchen. Im Gegensatz zu mir engagierte sie sich schon immer vehement und mit einer Spur von Wut und Aufregung für bestimmte, zumeist soziale Ziele. Sie arbeitete nahezu pausenlos oder erweckte zumindest den Eindruck. Später, als sie im Pflegeheim zu arbeiten begann, fühlte sie sich zunehmend unentbehrlich und verdrängte Misserfolge. Alexandras Erschöpfung und chronische Müdigkeit schob ich auf ihren stressigen
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