Alles außer Sex: Zwischen Caipirinha und Franzbranntwein (German Edition)
öffnen. Das bringt Unglück. Mein Blick fiel auf ein Kuvert, das zwischen den Päckchen lag und auf dem ich Carstens Handschrift erkennen konnte. Getrieben von Neugier und dankbar für die Ablenkung nahm ich schlechten Gewissens – ein Brief ist ja im strengen Sinne kein Geschenk – den Umschlag und öffnete ihn.
Meine liebe Tati!
Komm mit mir nach Hamburg und lass uns Deine Premiere zwischen Musical, Reeperbahn und festlichem Candlelight-Dinner feiern!
Toi, toi, toi für Dein erstes Soloprojekt. Ich bin stolz auf Dich, denn durch Dich habe ich einen Plan vom Glück, vom Leben und von der Liebe!
Dein Carsten
Das war er! Ganz sicher! Der Heiratsantrag, auf den ich so lang gewartet hatte! Jedenfalls fast. Im November sollte es so weit sein! Warum sonst benötigte Carsten so viel Vorbereitungszeit für eine Tour in den Norden, wenn er nicht etwas ganz Großes mit mir vorhätte? Ich wäre am liebsten laut jubelnd in den Saal gelaufen, ich hätte die ganze Welt umarmen wollen vor Glück. In Hamburg würde Carsten mir die Frage aller Fragen stellen, und ich hatte den Termin auf dem Standesamt nicht umsonst reserviert!
Die rote Lampe leuchtete. Das war mein Signal, dass es losging. Ich atmete einmal tief durch, trat nunmehr zusätzlich motiviert ins Scheinwerferlicht und führte im wahrsten Sinne des Wortes Freudentänze auf. Ich wusste zwar, dass alle Freunde und Bekannten, einige Pressevertreter und Veranstalter im Publikum saßen, aber ich nahm keinen von ihnen wahr. Ich war durch Carstens Liebesbrief so glücklich wie noch nie zuvor und fühlte mich wie auf Droge. Der Text saß, die Stimme funktionierte und vor allem: Carsten wollte mich heiraten – perfekt! Ich spielte hemmungslos und hochkonzentriert. Von weit her hörte ich das Lachen der Zuschauer. Die Zeit verging wie im Flug, bis die Vortakte des letzten Songs erklangen.
»Auf halber Strecke« von Ina Müller. Ich hatte dieses Lied ausgesucht, weil ich mich, meine Lebenssituation und meine Gefühle in diesen Worten wiederfand. »Auf halber Strecke … zwischen ersten Küssen und andauernd Blutdruck messen müssen. Kein sexy Ding mehr, aber Spaß daran wie noch nie!«
Obwohl ich die Coverversion schon unzählige Male geprobt hatte, die Worte immer und immer wieder gesungen: Heute, am Tag meiner Premiere, FÜHLTE ich, was ich sang. Jedes einzelne Wort drang in den hintersten Winkel meines Bewusstseins und erreichte mein Herz. »Nicht jung, nicht alt – irgendwie – so’n bisschen dazwischen.«
Der letzte schwermütige Ton des Cellos verklang, alle Scheinwerfer gingen aus. Black. Ich wischte mir verstohlen eine Träne aus dem Auge.
Als das Licht wieder anging, kochte der Saal. Die Leute klatschten, pfiffen und trampelten. Ich bekam am ganzen Körper Gänsehaut. Die meinten mich! Unglaublich! Zum ersten Mal im Leben hatte ich das Gefühl, dass kein Chef, kein Fernsehproduzent, kein Gönner oder Kollege den Applaus bekam, sondern ich: Tati, die Seiteneinsteigerein, die Macherin mit Angst vor der eigenen Courage, die Kabarettistin, die sich nie vorstellen konnte, allein auf einer Bühne zu stehen! Und ich stand in diesem Moment nicht nur auf der Bühne, ich stand auch zu dem, was ich sagte, spielte und darbot.
So ein Bühnenstück ist immer eine Gemeinschaftsproduktion, und darum überreichte ich nach der zweiten Zugabe allen, die an meinem Erfolg beteiligt waren, indem sie mir zur Seite gestanden und an mich geglaubt hatten, kleine Premierengeschenke: meiner Schwester, meiner Freundin Gisi, der Kostümbildnerin, Tino und natürlich Carsten, meinem Motor, Mutmacher und zukünftigen Ehemann!
***
Carsten und Alexandra waren damals für mich dagewesen, ganz selbstverständlich. Und auch wenn ich nach meiner aufopferungsvollen Kümmerung keinen Applaus erwarten kann, denke ich im Hochgefühl der Erinnerung an meine Premiere: »Wenn du diese Bewährungsprobe bestanden hast, dann wirst du auch mit kranken Erdmännchen und Plumploris fertig.«Als Chica tonlos gegen meine sie fest umschlingenden Arme kämpft und sich in meinen Oberschenkel krallt, wische ich die letzten Tränen weg, schnäuze ins Taschentuch und entlasse die Katze auf den Fußboden, nicht ohne ihr vorher ebenfalls die Rotznase geputzt zu haben. Dann schließe ich die immer noch geöffnete und mich vom Bildschirm des Laptops hämisch angrinsende »Stand-up-Club«-E-Mail. In der Küche ist es ganz still, die durch die Fenster hereindringende herbstliche Düsternis wird von den beiden
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