Alles Azzurro: Unter deutschen Campern in Italien (German Edition)
obere rechte Ecke mit rotem Edding-Stift eine 47 malt und einen Kreis drum herum. Das also sind unsere Tischdecke und unsere Bestellnummer.
»Hast du die Kühltruhe gesehen?«, frage ich, als wir uns an unseren Tisch im äußersten Eckchen setzen.
»Ja«, sagt Lena, »wieso?«
»Wahnsinn, was die hier aus dem Wasser ziehen.«
Ich kann nicht behaupten, dass ich ein renommierter Fischexperte bin, aber eine Seezunge erkenne selbst ich. Thunfisch-Scheiben, Schwertfisch-Filets, Kraken.
»Aber wo kriegen die denn den Hummer und die Austern her?«
Lena lacht. »Die kommen jeden Morgen per UPS. Matteo lässt das alles aus Amerika und Frankreich einfliegen.«
Das macht mich etwas misstrauisch. Wenn ein Wohnwagenschlüssel per Kurier mindestens zwei Tage unterwegs ist, wie frisch sind dann die Austern? Ich würde es nicht auf einen Test ankommen lassen.
Am Anfang hat mich der Achtzigerjahre-Charme von Sepiana ja noch reichlich irritiert. Die Abwesenheit jeglicher Infrastruktur, die Langsamkeit des Lebens oben im Dorf, das Retro-Ambiente in Ercoles Pico Bello. Es kam mir vor wie eine Zeitreise. Inzwischen sehe ich das alles als Ausflug in eine Welt, die komplett unbeschwert am Rande der komplizierten Wirklichkeit vor sich hin existiert.
Und dann hast du ausgerechnet hier oben an einer Bretterbude plötzlich Internet über WLAN, es läuft Radio Swiss Jazz, und es gibt Austern.
»Von allen Leuten, die ich hier kennengelernt habe, scheint Matteo der Einzige zu sein, der in der Gegenwart lebt, findest du nicht?«
»Das ist auch kein Wunder. Der ist auch der Einzige, der regelmäßig aus Sepiana rauskommt«, sagt Lena.
»Vergiss Fabio nicht!«
»Doch. Vergiss Fabio. Der hätte noch zehn Jahre in Wien leben können und sich trotzdem nicht verändert. Ich mag ihn wirklich gern, aber die tiefen Teller hat der nicht erfunden.«
Aha? Ich wüsste nur zu gern, ob er während ihrer paradiesischen Bootstour versucht hat, Lena anzugrapschen. Aber ich verzichte ganz bewusst darauf, sie zu fragen. Es würde nur peinlich eifersüchtig klingen. Und Eifersucht ist auch immer ein Zeichen von Schwäche. Die will ich nicht zeigen. Jedenfalls nicht so offensichtlich.
»La spigola« , sagt Matteo, als er ein riesiges Silbertablett mit dem in Salzkruste gebackenen Wolfsbarsch serviert. Der Fisch schmeckt phantastisch und so frisch, als wäre er tatsächlich heute Morgen erst gefangen worden, wie Matteos Schwägerin versichert hat.
Wenn mein Schwiegervater schon nicht den Campingplatz gegründet hat, dann hält er zumindest dieses Restaurant für einen seiner genialsten Einfälle. So hat er es jedenfalls in einem seiner umfangreichen Briefings dargestellt. Vor gut 25 Jahren will er den alten Fischer auf die brillante Idee gebracht haben, seinen Fang nicht nur auf dem Markt am Hafen von Sepiana zu verkaufen, sondern noch an Ort und Stelle auf den Grill zu schmeißen beziehungsweise in die Pfanne zu hauen.
Ich würde den alten Herrn gern fragen, ob die Legende stimmt. Er sitzt an einem Tisch in einer Ecke der kleinen Hütte und mampft mit bloßen Händen kleine frittierte Fische mit Kopf und Schwanz. Zu seinen Füßen balgen sich zwei grotesk verwachsene Mischlingshunde um die Brocken, die dann und wann vom Tisch fallen. Nur: So wie er mit seinem Teller vor dem Fernseher hockt und Milan gegen Juve in einer Affenlautstärke sieht, macht er keinen wirklich gesprächigen Eindruck.
An den einfach verputzten Wänden um ihn herum hängen in Bilderrahmen Artikel aus Feinschmecker- und Reisezeitschriften, die Schönheit und kulinarische Qualität des Restaurants besingen.
Nach dem Essen zeigt mir Lena den Trabucco. Eine wackelige Holzbrücke führt hinüber auf ein merkwürdiges Holzgestell, das auf Pfählen ins Meer hineingebaut und mit dicken Seilen gesichert ist. Die Konstruktion erinnert an eine Mischung aus Jäger-Hochsitz und Ölplattform mit einem Holzverschlag in der Mitte.
Matteo gesellt sich im vollen Maître-Ornat auf eine Zigarette zu uns. Wir schauen raus aufs Meer, wo man in der Dunkelheit die Umrisse einiger Boote erkennt. Die Fischer leuchten mit Lampen ins Wasser, um so den Tintenfisch anzulocken. Matteo setzt sich an den Rand des Podests und lässt die Beine über dem Abgrund baumeln.
»Die ersten Trabucci gab es schon im Mittelalter«, sagt er. »Und wenn du hier die Küste entlangfährst, siehst du sie in jeder Bucht.« Zweimal im Jahr ziehen die großen Fischschwärme in der Gegend vorbei, erzählt Matteo. Im Frühjahr und
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