Alles Azzurro: Unter deutschen Campern in Italien (German Edition)
schon gesagt.«
»Nee«, meint Helmut, »von so ’nem bisschen Müll kommt so was nicht.«
Lena sagt: »Das ist doch jetzt wurscht. Lasst uns lieber zusehen, dass wir die anderen finden.«
»Ich will ja jetzt nicht herumschlaumeiern, aber ich habe solche Sachen schon ein paarmal mitgemacht«, sage ich, »das kann ein paar Tage dauern, bis wir Rita gefunden haben. Vor allem wenn sie ihr Handy nicht mitgenommen hat. Es gibt irgendwo ein paar Listen, wo die dann draufstehen. Müssen wir halt ein bisschen rumtelefonieren.«
»Hoffentlich sind die überhaupt rausgekommen«, schluchzt Susi.
Lena nimmt sie in den Arm: »Na klar, die sind doch noch früher als wir zu der anderen Bucht rüber.« Susi greift nach Helmuts Hand.
In dem Moment fährt eine Kolonne von vier Reisebussen in den Hafen ein. »Ich glaube, es geht los«, sagt Lena.
Sie haben uns in eine Grundschule gebracht. Unten am Hafen war das Chaos groß, und der Carabiniere lief zur Hochform auf, während er unter wilden Flüchen und mit reichlich Trillerpfeifen-Gedöns die Flüchtlinge dazu bringen wollte, eine Warteschlange wie an einer britischen Bushaltestelle zu formen. Ein paar überdrehte Deutsche schrien, sie seien im ADAC, woraus sie offenbar irgendwelche Privilegien ableiteten. »Ich doch auch«, stimmten andere Landsleute in den vielstimmigen Chor mit ein.
Die Rot-Kreuz-Mitarbeiter hatten offensichtliche Mühe, ihr eigenes süditalienisches Temperament zu unterdrücken. Sie hielten uns Klemmbretter hin, in die wir unsere Namen und Telefonnummern eintragen sollten. »In capital letters please« , sagte die nette Frau – in Großbuchstaben, damit man es auch entziffern kann. Und wer eingetragen war, durfte sich schließlich in einen Reisebus setzen, auf dem »Viaggi Gargano« stand.
Helmut hatte augenscheinlich wieder den Boden unter den Füßen zurückgewonnen, jedenfalls machte er jetzt einige Vorschläge, wie die Organisation zu optimieren sei. Diese wurden allerdings nicht nur aus Gründen der Sprachbarriere ignoriert. »Lass uns erst mal in die Notunterkunft fahren«, versuchte ich ihn zu vertrösten, »da werden sie jede Hilfe brauchen.«
Die Schule ist ein nicht besonders repräsentabler zweistöckiger weißer Bau auf einer Anhöhe über Vieste; karge Flure, weiß mit einem pastellgelben Streifen, nirgends hängt auch nur ein einziges Kinderbild an der Wand. Wie deprimierend muss das sein, hier das Lesen und Schreiben zu erlernen? Lernanstalt trifft es wahrscheinlich ganz gut.
Auf den Fluren und in der Turnhalle ein Geräuschpegel wie in einem Hallenbad. Es trägt ja auch fast jeder Badekleidung, die meisten Männer sind halbnackt.
An der Stirnseite der Halle haben sie jeweils vier Pulte in U-Form zusammengeschoben, als improvisierte Theke. Das eine ist quasi der Info-Schalter, wo man die Namen seiner Angehörigen und Freunde angeben kann, die man noch sucht. Der zweite Tresen ist eine Art Cafeteria, hinter dem Wasser-Sixpacks aufgetürmt sind. Es gibt Brioche und Panini, die offenbar eine nahe gelegene Bäckerei gespendet hat. Anwohner bringen Decken und Kleidung vorbei, dazu Kekse und Süßigkeiten für die Kinder, deren Geschrei von den Wänden der Halle widerhallt.
Willi hat seinen Namen und den von Rita am Info-Counter hinterlassen, derweil hat Helmut ein kleines Klassenzimmer organisiert, in das wir uns zurückziehen können. Das teilen wir uns mit zwei Familien aus einem Kaff irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern, das ich im Leben nicht auf der Landkarte finden würde. Und Helmut verteidigt unseren Platz gegen jeden, der vorsichtig anfragt, ob er sich zu uns gesellen darf.
Ich bahne mir meinen Weg durch den Flur-Trubel nach draußen. Eine rauchen. Es ist so absurd. Vor ziemlich genau einem halben Jahr war ich in exakt derselben Situation – in Japan, als wir im Tsunami-Gebiet ein Geschwisterpaar begleitet hatten, das seine Eltern suchte. Es war alles viel stiller, viel resignativer, morbider, weil klar war, dass Tausende Menschen ums Leben gekommen waren. Aber diese Turnhalle und die verwirrten Leute, die ziellos umherlaufen – das ist wie ein Déjà-vu. Nur dass ich diesmal nicht ein Beobachter bin, der sich hinter seinem Notizblock verstecken kann, sondern Mitbetroffener der Katastrophe.
Ich zünde mir auf dem Pausenhof eine Zigarette an. Ein Mann mit einem Megaphon gibt bekannt, dass jetzt ein Ärzteteam angekommen sei, das sich aber zuerst um die Kinder kümmern werde. Dann ruft er Namen auf: »Lucarelli, Giovese,
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