Alles bestens
etwas vor meinen Augen auftun? Was hatte das zu bedeuten?
Ich wollte meine Mutter anrufen, aber ich hatte kein Handy dabei, keine Kohle zum Telefonieren; ich schluckte ein paar Tränen runter.
Mit letzter Kraft schleppte ich mich bis zum Badeschiff. Aus der Bambusbar hörte ich Too drunk to fuck von Camille. Schön wär’s!
Meine Füße brannten, ich wünschte mir 71 Prozent mehr Hornhaut, und zwar sofort und am besten überall. Auch um die Seele, wenn es dieses Teil wirklich gibt!
Das Piratenbett an Deck war noch frei, ansonsten chillten ein paar Leute auf den Planken, mit Büchern vor der Nase, andere ratzten vor sich hin. Die Spree plätscherte Wellen an den Pool und im Pool schwappte blaues Wasser.
Ich ging erst mal an Land aufs Klo, ließ mir vom Spender Seife in die Hände spucken und wusch mir die Füße. Das gelbe Zeug ging verdammt schwer ab. Ich musste ganz schön schuften. Da hörte ich plötzlich mein Herz, als hackte jemand Holz neben mir. Ich bekam Panik. Was würde passieren, wenn der Holzhacker aufhörte zu schlagen? Schließlich wird jeder Holzhacker einmal müde.
Mir trat der Schweiß in die Achseln. Ich roch die Angst vor den eigenen Gedanken, aber ich konnte sie nicht ausschalten, ich wusste, über kurz oder lang musste ich mich ihnen stellen, wie der neuen Erkenntnis bezüglich meiner Eltern. Ihr könnt mir glauben, Leute, ich hätte alles getan, um meine Mutter aus diesem verfluchten Kleiderschrank zu holen. Aber ich konnte nicht eingreifen. Ich war nicht zuständig für die Macken meiner Eltern. Es schien, dass ich auch nicht zuständig für den Holzhacker war. Er hackte, schwitzte, ich schwitzte auch und wagte nicht, mich zu rühren. Mein Herz raste immer schneller.
»Nicht nervös werden«, sagte eine Stimme in mir. »Immer schön cool bleiben.«
Es war meine Stimme! Leute, ich hatte eine eigene Stimme. Nichts von meinem Vater mehr in mir! Diese Einsicht verlangsamte meinen Herzschlag. Ich atmete tief durch und leckte mir den Schweiß von der Oberlippe.
»Mach deine Fingernägel sauber und wasch dir die Ohren«, sagte jetzt die Stimme.
Ich biss mir auf die Lippen. Die Stimme war diesmal nicht meine, sondern die von meiner Mutter, die altbekannte, keine aus dem Kleiderschrank. Wie kam die denn hierher?
Ich kippte mir reichlich kaltes Wasser ins Gesicht und rieb meine Wangen, bis sie rot waren. Jetzt sah ich aus wie ein Kind. Gestern Mann, heute Kind. Okay, dachte ich, mal sehn, was noch kommt. Ich atmete tief, sehr tief durch.
Zurück auf dem Badeschiff, war mein Bett besetzt. Ein Mädchen mit orangefarbenem Badeanzug lag auf dem Rücken und schlief. Dafür war die Hängematte frei. Die Hängematte ist sonst nie frei! Ich ließ mich in den Stoff plumpsen und schaukelte so lange hin und her, bis ich vom Kind zum Baby wurde und mich so geborgen fühlte wie im Tragetuch meiner armen Mutter. Dann legte sich ein Schatten über mein Gesicht.
»Ey, Hannes, du? Ich fass es nicht«, sagte eine mir sehr vertraute Stimme. »Hier lümmelst du also rum?«
Sascha Schellenberg, mein damals bester Kumpel, stand vor mir und schaute auf mich herab.
»Und ich dachte, du bist in Warschau oder in irgend so einem Scheiß- KZ !«
Ich setzte mich auf, machte ihm Platz und schaute mich vorsichtig um, weil er »Scheiß- KZ « gesagt hatte. So was sagt man nicht. Und schon gar nicht in Deutschland. Ich wollte nicht für einen verdammten Neonazi gehalten werden, nur weil mein Kumpel sich nicht benehmen konnte. Das Mädchen in dem orangefarbenen Badeanzug erinnerte mich an etwas, aber mir fiel verdammt noch mal nicht ein, an was.
Sascha setzte sich neben mich. »Was machst’n hier?«
»Brauchte dringend ’ne Pause.«
»Und wie siehst du überhaupt aus?« Er glotzte auf mein T-Shirt. »Alter, was ist das denn? Warum hast du ›Che Guevara‹ auf dein T-Shirt geschrieben?«
»Was hättest du denn draufgeschrieben? Schweinsteiger?«
Sascha grinste. Er grinste immer nur mit einem Mundwinkel. Das finden alle Schnecken sexy. Diesmal mit dem rechten.
»Wie heißt der Typ eigentlich mit Vornamen?«
»Wer, Schweinsteiger?«
»Nein, Che Guevara!«
Ich zuckte die Schulter.
»Und was ist das überhaupt für ein seltsames Shirt?« Er kam ganz nah an mich heran, um den Stoff zu betrachten, und rümpfte die Nase. »Hast du etwa Axe benutzt?«
Ich schob seine Birne weg. »Halt mal Abstand, Alter! Sonst denkt hier noch jemand, wir sind schwul.«
Das Mädchen in dem orangefarbenen Badeanzug schaute zu uns
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