Alles bleibt anders (German Edition)
bei uns in ein Spinnennetz geflogen, hier eben nicht. Damit unterscheidet sich zwar die Insektenpopulation sechshundert Jahre später, aber nicht unbedingt die sonstige Realität.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Interessanter und herausfordernder wird es, wenn man sich vorstellt, was an bedeutenderen Dingen anders verlief. Beispielsweise wurde Richard II., der damalige englische König, 1399 wegen seiner Willkürherrschaft zur Abdankung gezwungen und von seinem Vetter abgelöst.«
Frank wollte schon das Lexikon 'Fan-Hij' zurückschieben und nach dem Band mit der britischen Geschichte greifen, um den Sachverhalt zu überprüfen, doch Karen hielt ihn zurück.
»Gutenberg«, sagte sie.
»Gutenberg?«
»Nur eine Vermutung. Würde aber zu dem Umstand passen, dass Luther nicht die gebührende Öffentlichkeit erhielt. Gutenberg wurde um 1400 geboren, das genaue Datum ist nicht bekannt. Vielleicht hat Martin Luther die Bibel erst gar nicht übersetzt, weil er die Möglichkeiten nicht kannte, die sich aus der Entwicklung des Buchdruckverfahrens ergaben. Die Massenproduktion der Bibelübersetzungen war aus unserer heutigen Sicht eine der Grundvoraussetzungen für die Reformation.«
Frank blätterte in seinem Lexikon. »Du hast Recht. Kein Eintrag unter 'Gutenberg'!«
Karen steckte ihren eigenen Band zurück und zog den mit der Aufschrift 'A-Bux' aus dem Regal.
Sie suchte unter 'Buchdruck' und las laut vor.
»Buchdruck – das Herstellen von Satz und das Vervielfältigen in Druckpressen; entwickelt um 1520 durch Wilhelm von Burgos, Abt im Benediktinerstift zu Melk, Niederösterreich.«
»Hundert Jahre später.«
»Da haben wir die Ursache dafür, dass sich alles etwa hundert Jahre später entwickelte.«
»Wir müssen los!«, drängte Frank.
Wehmütig betrachtete Karen die Buchrücken der Lexika, während Frank die Bände zurück an ihre Plätze schob. Der Inhalt, sicher äußerst spannend und interessant, doch sie hatten leider keine Zeit zum Schmökern. Was mochte noch alles historisch anders verlaufen sein? Waren beispielsweise Bismarck oder Hitler auch unter diesen Voraussetzungen zu geschichtlicher Bedeutung gelangt? Hatte Bismarck auf eine andere Weise seiner Zeit seinen Stempel aufgedrückt? Oder hatten nur die besonderen Umstände der eigenen Realität seinen Aufstieg beflügelt und seinen Platz in der Geschichte bedingt? Was war mit den Dichtern? Hatte Schiller die Rahmenbedingungen, um zu seiner schriftstellerischen Größe zu wachsen? Hatte Goethe seinen 'Faust' verwirklichen können?
Karen spielte mit dem Gedanken, sich die entsprechenden Bände aus dem Regal zu ziehen.
Frank zerrte an ihrem Oberarm.
»Wir müssen los!«, wiederholte er und widerstrebend folgte sie ihm.
»Auf Wiedersehen«, sagte sie lautstark zu der alten Dame, die hinter dem Schreibtisch vor sich hindöste und Frank ergänzte »Und Dankeschön« in der gleichen Lautstärke. Die Frau reagierte nicht.
Danach verließen sie die Pfarrbücherei.
Unweit der Kirche entdeckten sie eine freie Droschke und stiegen ein.
»Fahren Sie uns zuerst zu einem Waffengeschäft und dann weiter nach Dahlem!«, sagte Frank zum Kutscher und dieser gab seinen Pferden das Signal loszulaufen.
Endlich hatte Karen die Möglichkeit, Franks Geschichte zu hören, seine Erlebnisse seit seiner Ankunft vor noch nicht einmal einer Woche. Er berichtete ihr von seinem Eintreffen am Görlitzer Bahnhof, von der Erinnerung an seine Jugend in der Großbeerenstraße – eine Erinnerung, die nicht die seine war, wie er inzwischen wusste. Wie er über diesen seltsamen Nansen seine Mutter gefunden hatte. Die Mutter seines anderen Ichs, berichtigte er sich. Auch dass er sich ärztlich hatte untersuchen lassen, erzählte er. Von Jakob Levy, seinem ehemaligen Kommilitonen, und natürlich von Claire. Sein Tonfall wurde ein anderer, als er von ihr sprach und von ihren Begegnungen am Müggelsee. Er schilderte den dortigen Überfall auf sich und den Einbruch in die Wohnung seiner Mutter.
Er beschrieb den Zustand, in dem er Claire gestern Abend vorgefunden hatte und beendete seine Schilderung, in dem er den Kampf mit Dieter noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren ließ.
»Dieter hat eine Tätowierung unter der Achselhöhle, ein 'A'. Jetzt ist mir klar, dass es seine Blutgruppe kennzeichnet.«
»Einheiten der Waffen-SS tragen sie, auch Sonderkommandos der Gestapo«, half Karen seinem Gedächtnis weiter auf die Sprünge.
»Er sagte, er bräuchte etwas von mir«, überlegte Frank und dann
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