Alles bleibt anders (German Edition)
Karen sich hin und her bewegte, konnte sie neben der Couch ein Beistelltischchen erkennen und eine Wolldecke, die unordentlich auf dem Boden lag.
»Hier hat sie gestern Abend geschlafen«, flüsterte Frank, »so blass, so verletzlich, in ihrem weißen Nachthemd.«
Sein Gedankengang wurde rüde unterbrochen, durch eine laute Stimme hinter ihren Rücken.
»Was machen Sie denn hier?«
Frank und Karen drehten sich um.
Der Nachbar hatte seinen Rasenmäher an Ort und Stelle liegen gelassen und war bis an den Gartenzaun getreten, um zu beobachten, was da auf dem Nachbargrundstück vor sich ging.
»Wir wollten die Wiegands besuchen«, sagte Karen geistesgegenwärtig.
»Ach so.«
Der Nachbar war gleich beruhigter.
»Die sind nicht da. Frau Wiegand musste heute Morgen ins Krankenhaus.«
»Ins Krankenhaus?«, wiederholte Frank ungläubig.
»Ja, meine Frau und ich, wir machen uns auch schon Sorgen. Dabei schien sie gestern Vormittag noch völlig gesund zu sein, als ich hier, genau an der Stelle, an der wir jetzt stehen, mit ihr gesprochen hatte. Sie hatte sich um das Rosenbeet gekümmert.«
Er deutete auf die Rosenstöcke neben der Terrasse und sprach weiter.
»Ich frage mich ja immer, wie Frau Wiegand das immer macht. Sie hat wirklich ein Händchen für Rosen. Emilie, meine Frau, sagt immer …«
Frank unterbrach ihn.
»Wie ging es ihr? Haben Sie sie gesehen?«
»Nein. Wir haben es nur von unserem Küchenfenster aus beobachtet. Mit einem Automobil sind sie gekommen, um sie abzuholen. Na, die müssen Geld haben, in der Charité. Sah alles sehr dramatisch aus, wie die beiden Männer in den weißen Kitteln die Trage mit Frau Wiegand hinten in das Automobil geschoben haben.«
»Was ist mit Wiegand? War der auch dabei?«
»Ist neben der Trage hergelaufen. Hat immer aufmerksam nach links und rechts geguckt. Gerade so, als wolle er seine liebe Frau vor allem Bösen bewahren, das da auf sie zukommen könnte.«
»Und dann?«
»Dann ist er mit eingestiegen. So ein Glück, dass er Arzt ist. Da kann er sich doch gleich entsprechend um seine Frau kümmern.«
7
» Unsere Charité besitzt ein dreißigstöckiges Hauptgebäude«, sagte Frank, sich erinnernd, als er von der gegenüberliegenden Straßenseite auf das gemauerte Torhaus und die sich links und rechts anschließenden Mauerverläufe blickte.
»Dafür scheint dieses Areal hier großflächiger zu sein.«
»Schon merkwürdig. Als ich vorgestern hier war, habe ich verzweifelt versucht, mir diese Charité ins Gedächtnis zu rufen. Und nun sehe ich die andere Charité förmlich vor mir.«
»Ich habe dir heute Vormittag von ihr erzählt.«
»Nein, das meine ich nicht. In Germania sieht man sie schon aus weiter Entfernung und ich erinnere mich wieder an jede Einzelheit. Alles kehrt langsam zu mir zurück: meine gesamte Vergangenheit.«
»Vielleicht war es einfach nur eine Frage der Zeit. Wie bei einer Amnesie: wartet man lange genug, kehrt das Gedächtnis meist von selbst zurück. Oder du hast dich in dieser Ebene sozusagen 'akklimatisiert'.«
»Angefangen hat es gestern Abend, als mir plötzlich einfiel, welchen Zweck das Medaillon hatte. Aber warum konntest du dich sofort an alles erinnern? Und wieso spielt mir mein Gedächtnis Streiche mit Bildern aus dem Leben eines anderen Frank Millers, während du dich an nichts entsinnen kannst, was zu der anderen Karen Degner gehört?«
»Vielleicht finden wir die Antwort dort drinnen!«
Den Pferdeäpfeln, die vor ihr auf dem Kopfsteinpflaster lagen und von Fliegen umkreist wurden, ausweichend, überquerte sie die Straße. Frank folgte ihr. Sie gingen geradewegs auf das Pförtnerhäuschen neben dem Haupttor zu.
Der Pförtner war ein sauber in ein weißes Hemd mit schwarzer Fliege gekleideter, eher hager wirkender Mann. Er hatte eine Glatze und einen Schnurrbart, der breiter war als sein Gesicht und dessen Enden er schneckenförmig nach oben drapiert hatte. Er saß an einem Schreibtisch, dem Besucher zugewandt, hinter einer Glasscheibe und lächelte. Durch ein Fenster in der Glasscheibe konnte man sich mit ihm unterhalten.
»Wir möchten gerne eine Patientin besuchen: Frau Claire Wiegand«, begann Frank.
Die Hände des Pförtners griffen nach einem Holzkasten, der vor ihm auf dem Tisch stand.
»Wiegand, ja?«, vergewisserte er sich und Frank nickte.
Die Lippen des Pförtners formten ein lautloses 'W', während er im hinteren Bereich des Kastens nach der entsprechenden Karteikarte suchte.
»'Wiedner', 'Wissmann'; nein, 'Wiegand' haben wir nicht.
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