Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
der Empfängnisverhütung. Das Verbot trifft selbstverständlich nur arme Frauen, denn in der Mittel- und Oberschicht wird Verhütung genau wie Abtreibung weithin praktiziert.
Ähnliches lässt sich von den protestantischen Kirchen sagen. In den USA haben sie, oftmals mit Unterstützung der Katholiken, die Initiative ergriffen und sich dafür eingesetzt, dass der Schulunterricht den Vorgaben der Bibel folgt und Darwins Theorie von der Entstehung der Arten und der Evolution aus den Lehrplänen gestrichen und durch den Kreationismus ersetzt wird, das »Intelligent Design«, eine unwissenschaftliche Haltung, von der, so anachronistisch und obskurantistisch sie erscheinen mag, nicht auszuschließen ist, dass sie in einigen Bundesstaaten der USA, wo der religiöse Einfluss auf die Politik sehr groß ist, einmal obsiegt.
Zudem hat die energisch ausgreifende protestantische Missionsoffensive in Lateinamerika und anderen Regionen der Dritten Welt Beachtliches erreicht. Besonders die evangelikalen Kirchen haben in den von Armut geprägten Randvierteln und in abgelegenen Ortschaften die katholische Kirche verdrängt, die mangels Priestern oder Missionseifers gegenüber den ungestümen protestantischen Kirchen an Boden verloren hat. Von den Frauen werden sie willkommen geheißen, denn sie verbieten den Alkohol und verlangen von den Bekehrten, auch im Alltag ein religiöses Leben zu führen, was zur Stabilisierung der Familien beiträgt und die Männer von Kneipen und Bordellen fernhält.
Wie auch immer, in den blutigsten Konflikten der jüngeren Zeit ist fast immer die Religion die eigentliche Triebkraft gewesen, in der Auseinandersetzung zwischen Israel und Palästina, im Krieg auf dem Balkan, bei den Gewalttätigkeiten in Tschetschenien, den Vorfällen in China im Gebiet Xinjiang, wo die muslimischen Uiguren den Aufstand probten, den Gemetzeln zwischen Hindus und Muslimen in Indien, den Zusammenstößen zwischen Indien und Pakistan und so weiter.
Die UDSSR und ihre Satellitenstaaten sind ein lehrreiches Beispiel. Trotz siebzig Jahren der Verfolgung und atheistischen Propaganda ist die Religion nicht verschwunden, im Gegenteil, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus lebte sie wieder auf und nahm erneut einen prominenten Platz in der Gesellschaft ein. In Russland sind die Kirchen heute voll, und die Popen mischen sich wie früher ins politische und öffentliche Leben ein. In den Ländern, die unter sowjetischer Kontrolle waren, sieht es nicht anders aus. Ob orthodox oder katholisch, die Religion blüht und gedeiht, was darauf hindeutet, dass sie nie verschwunden war, sie hat nur im Verborgenen überwintert. Die Wiedergeburt derorthodoxen Kirche in Russland ist wahrlich beeindruckend. Die Regierungen unter der Präsidentschaft Putins und dann Medwedews haben begonnen, die von den Bolschewiken beschlagnahmten Kirchen und religiösen Besitztümer zurückzugeben, sogar die Rückgabe der Kathedralen im Kreml ist im Gange, ebenso die von Klöstern, Schulen, Kunstwerken und Friedhöfen. Seit dem Untergang des Kommunismus, so wird geschätzt, hat sich die Zahl der orthodoxen Gläubigen in Russland verdreifacht.
Die Religion macht also keine Anstalten zu verschwinden. Alles deutet darauf hin, dass sie noch eine Weile am Leben bleibt. Ist das nun gut oder schlecht für die Kultur der Freiheit?
Die Antwort, die zwei bekannte Atheisten geben, der britische Wissenschaftler Richard Dawkins in seinem Buch Der Gotteswahn ( The God Delusion ) und der Journalist Christopher Hitchens mit einem Buch unter dem bezeichnenden Titel Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet ( God is not Great. How Religion Poisons Everything ), ist mehr als eindeutig. Doch in dem Streit, den die beiden entfachten, indem sie die alten Vorwürfe des Obskurantismus, des Aberglaubens, der Irrationalität, der Geschlechterdiskriminierung, des Konservatismus und Autoritarismus erneut gegen die Religionen auffuhren, gab es auch zahlreiche Wissenschaftler wie den Physik-Nobelpreisträger Charles Townes (der die These vom »Intelligent Design« unterstützt) und Publizisten, die nicht weniger leidenschaftlich ihre religiösen Überzeugungen verteidigten und die Argumente zurückwiesen, wonach der Glaube an Gott und die religiöse Praxis mit der Moderne, der Freiheit und den Entdeckungenund Wahrheiten der heutigen Wissenschaft nicht vereinbar seien.
Dies ist kein Streit, den man mit Argumenten entscheiden kann, denn ihnen zugrunde liegt immer etwas
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