Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Wesen den Sinn des Lebens und der zeitlichen wie historischen Ordnung kennen und bestimmen – das Geheimnis also, in dem wir geboren werden, leben und sterben –, Wesen, die mächtiger und weiser sind als wir und deren Weisheit wir uns annähern können, bis wir unser eigenes Dasein auf eine Art verstehen, dass es dem Leben Halt und eine Rechtfertigung gibt. Mit all ihren Fortschritten hat die Wissenschaft es nicht vermocht, dieses Geheimnis zu enthüllen, und es ist fraglich, ob sie es jemals vermag. Sehr wenige nur sind in der Lage, die Vorstellung von einer »absurden Existenz« zu akzeptieren, den Gedanken, dass wir durch einen unbegreiflichen Zufall, einen kosmischen Unfall in die Welt »geworfen« sind, dass unser aller Leben auf Zufälligkeiten beruht, ohne jeden Plan, und dass, was immer uns in unserem Leben widerfährt oder nicht widerfährt, ausschließlich von unserem Willen und Verhalten abhängt und von der gesellschaftlichen und historischen Situation, in die wir eingebettet sind. Allein dieser Gedanke, wie Albert Camus ihn in Der Mythos des Sisyphos luzide und klar beschrieb und aus dem er wunderbare Schlussfolgerungen über die Schönheit, die Freiheit und die Freuden des Lebens zog, stürzt den Normalsterblichen in Anomie und lähmende Verzweiflung.
In »Von der Geburt der Götter«, dem Auftakt-Essay ihres Bandes Der Mensch und das Göttliche 12 , fragt María Zambrano sich: »Wie sind die Götter entstanden und warum?« Die Antwort, die sie findet, ist noch älter und weitreichender als die bloße Bewusstwerdung der ersten Menschen über ihre Schutzlosigkeit, Einsamkeit und Verletzlichkeit. Es ist etwas ganz Grundlegendes, ein die Conditio humana bestimmendes »abgrundtiefes Bedürfnis«, vor der Welt jene »Fremdheit« zu spüren, die im Menschen einen »Verfolgungswahn« auslöst, der nur aufhört oder zumindest nachlässt, wenn er die Götter, deren Existenz er ahnte und die ihn in Beklemmung und Raserei hielten, anerkennt, in sein Dasein aufnimmt und sich von ihnen umgeben fühlt. María Zambrano spricht von den griechischen Göttern, aber ihre Schlussfolgerungen gelten für alle Zivilisationen und Kulturen. So fragt sie sich auch selbst: »Warum hat es immer Götter gegeben, wohl verschiedener Art, aber doch Götter?« Die Antwort, die sie in einem anderen Essay ihres Buches gibt, »Die Spur des Paradieses«, könnte überzeugender nicht sein: »Und an den beiden Polen, die den menschlichen Horizont kennzeichnen – die verlorene Vergangenheit und die zu bildende Zukunft –, leuchten das Verlangen und die Sehnsucht nach einem göttlichen Leben, das nichtsdestotrotz menschlich ist, ein göttliches Leben, das der Mensch offenbar immer als erstes Vorbild gehabt hat, das durch die Wirrungen hindurch in bunten Bildern hervorstach, wie ein Strahl reinen Lichtes, das beim Durchdringen der aufgewühlten Atmosphäre der Leidenschaften, Bedürfnisse und Schmerzen an Farbe gewinnt.«
In den sechziger Jahren erlebte ich in London, wie eine neue Kultur kraftvoll hereinbrach und sich von dort aus über einen großen Teil der westlichen Welt ausbreitete, die Kultur der Hippies oder flower children . Das Auffälligste und neuartig Revolutionäre an ihr war die Musik – die Musik der Beatles und der Rolling Stones –, dazu eine neue Art, sich zu kleiden, die Forderung nach Legalisierung von Marihuana und anderen Drogen, die sexuelle Freiheit, aber auch das Wiedererwachen einer Religiosität, die sich vor allem dem Orient zuwandte, dem Buddhismus und dem Hinduismus und allen damit verbundenen Kulten, ebenso zahllosen Sekten und ursprünglichen religiösen Praktiken, von denen viele zweifelhafter Herkunft waren, zuweilen zusammengeschustert von Möchtegerngurus und skurrilen Trittbrettfahrern. Aber egal wie naiv, modisch oder albern dieser Trend war, all die aus dem Boden schießenden Kirchen und exotischen Glaubensvorstellungen, ob authentisch oder gegaukelt, zeigten deutlich, dass die Tausenden von jungen Menschen weltweit, die sich ihnen zuwandten und sie mit Leben erfüllten oder die nach Kathmandu pilgerten wie früher ihre Großeltern zu den heiligen Stätten oder die Muslime nach Mekka – dass sie dieses Bedürfnis nach Spiritualität und Transzendenz verspürten, von dem sich im Laufe der Geschichte nurkleine Minderheiten befreit haben. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist auch, dass etliche Nonkonformisten und solche, die gegen die Vormachtstellung des Christentums zu Felde zogen, dann dem
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