Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
sind, genau wie der palästinensische Islamische Dschihad, tief religiösen Ursprungs. Auch bei den ersten freien Wahlen, die Tunesien und Ägypten in ihrer Geschichte erlebten, konnten die (eher moderaten) islamischen Parteien die meisten Stimmen auf sich vereinigen.
Dies alles spielt sich im Islam ab. Doch genauso wenig kann man sagen, dass das Zusammenleben der verschiedenen christlichen Kirchen, Freikirchen und Sekten immer friedlich gewesen wäre. In Nordirland haben in dem (hoffentlich für immer beendeten) Kampf zwischen der protestantischen Mehrheit und der katholischen Minderheit die kriminellen Taten der Extremisten beider Seiten eine erschreckende Zahl an Toten und Verletzten gefordert. Auch dieser politische Konflikt zwischen Unionisten und Nationalisten war immer begleitet von einem tiefer gehenden religiösen Antagonismus.
Der Katholizismus selbst ist in seinem Innern alles andere als spannungsfrei. Bis vor einigen Jahren war der heftigste Konflikt der zwischen den Traditionalisten und den Vorkämpfern der Befreiungstheologie, ein Streit, der mit der Einsetzung zweier konservativ ausgerichteter Päpste – Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. – einstweilen durch Einhegung (nicht Niederlage) der progressiven Richtung gelöst zu sein scheint. Das größte Problem, mit dem sich die katholische Kirche nun konfrontiert sieht, ist die Enthüllung von Pädophilie und Vergewaltigungen in Schulen, Seminaren, Heimen und Pfarreien, eine schaurige Wirklichkeit, auf die es schon vor Jahren Hinweise gegeben hatte, was die Kirche jedoch unter der Decke hielt. Durch Aktionen und Strafanzeigen der Opfer selbst sind diese Missbrauchsfälle allerdings so zahlreich ans Licht gekommen, dass man nicht länger von vereinzelten Vorkommnissen sprechen kann, sondern von einer räumlich und zeitlich weit verbreiteten Praxis, einer regelrechten Tradition. Die Sache hat die ganze Welt schaudern lassen, vor allem die Gläubigen selbst. Die Aussagen Tausender von Opfern in fast allen katholischen Regionen führte die Kirche mancherorts, so in Irland und in den USA, wegen der hohen Summen, die aufzubringen waren, um sich vor Gericht zu verteidigen oder den Missbrauchsopfern Entschädigungen zu zahlen, an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Trotz aller gegenteiliger Beteuerungen ist es offensichtlich, dass zumindest ein Teil der Kirchenhierarchie – die Anschuldigungen betrafen gar den Papst selbst – den pädophilen Priestern und Vergewaltigern Beihilfe geleistet hat; dass diese geschützt wurden, indem man sich weigerte, sie anzuzeigen, und sie lediglich versetzte, ohne sie von ihren priesterlichen Aufgaben zu entbinden, nicht einmal vom Unterrichten Minderjähriger. Die Härte, mit der Papst Benedikt XVI. die Legionäre Christi, denen er eine vollständige Neuordnung der Kongregation auferlegte, und ihren Gründer verurteilte, den mexikanischen Pater Marcial Maciel, der in Bigamie lebte, Inzest beging, Geld veruntreute, Jungen und Mädchen schändete, selbst eines seiner eigenen Kinder – eine Figur wie aus einem Roman des Marquis de Sade –, diese Härte vermag die Schatten nicht zu vertreiben, die das alles auf eine der bedeutendsten Religionen der Welt wirft.
Hat der Skandal dazu beigetragen, den Einfluss der katholischen Kirche zu verringern? Das lässt sich kaum behaupten. Zwar werden in vielen Ländern mangels Novizen die Priesterseminare geschlossen, und verglichen mit früher sind Gelder aus Spenden, Schenkungen und Vermächtnissen, die der Kirche zufließen, weniger geworden; aber zugleich haben die Schwierigkeiten, so sieht es zumindest aus, den Eifer der Katholiken befeuert, denn nie waren sie aktiver mit ihren Kampagnen gegen die Homo-Ehe, die Legalisierung der Abtreibung, die Empfängnisverhütung, die Sterbehilfe undden Laizismus. In Ländern wie Spanien hat die katholische Mobilisierung – sowohl im Klerus wie auch in ihren weltlichen Einrichtungen – solch beeindruckende und zuweilen heftige Ausmaße angenommen, dass von einer auf dem Rückzug befindlichen oder in die Enge getriebenen Kirche keine Rede sein kann. Die politische und gesellschaftliche Macht, die der katholischen Kirche in weiten Teilen Lateinamerikas zukommt, ist ungebrochen, weshalb es beim Thema sexuelle Selbstbestimmung und Emanzipation der Frau auch kaum vorangeht. In den meisten iberoamerikanischen Ländern hat die katholische Kirche es geschafft, dass die Pille oder die »Pille danach« gesetzwidrig bleibt, ebenso jede andere Form
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