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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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gegenwärtigen gesellschaftlichen Verblödung«. Das unterschreibe ich sofort.
    Die digitale Revolution hat die Mauern der Zensur, die bisher die freie Information behinderte und kritische Stimmen zum Schweigen brachte, eingerissen, und so haben heute die autoritären Regime sehr viel weniger Möglichkeiten als früher, ihre Völker in Unwissenheit zu halten und die öffentliche Meinung zu manipulieren. Das ist natürlich ein ungeheurer Fortschritt für die Kultur der Freiheit, und man muss die Chancen nutzen. Aber zwischen diesen Aussichten und der Schlussfolgerung, die wunderbaren neuen Kommunikationsmedien berechtigten die Nutzer, zu erfahren und zu verbreiten, was immer unter der Sonne (oder unterm Mond) geschieht, und so die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten ein für alle Mal zu schleifen, dazwischen klafft ein Abgrund. Dies zu verkennen hätte weitreichende Folgen, es hieße letztlich, die Fundamente der Demokratie zu untergraben.
    Keine Demokratie könnte funktionieren, wenn in den Behörden ein vertrauliches Kommunizieren nicht mehr möglich wäre; auch hätte in der Diplomatie, der Verteidigung, der inneren Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und selbst in der Wirtschaft nichts mehr Bestand, wenn die Prozesse, welche die politischen Entscheidungen bestimmen, in allen Instanzen und mit allen Details ans Licht der Öffentlichkeit kämen. Das Ergebnis wäre die Lähmung der Institutionen und würde es den antidemokratischen Gruppierungen ermöglichen, jede Initiative, die ihren autoritären Zielen widerspricht, zu erschweren oder zu verhindern. Informationelle Libertinage hat mit Meinungsfreiheit nichts zu tun, sie steht ihr diametral entgegen.
    Ein solcher Missbrauch der Freiheit ist nur möglich in einer offenen Gesellschaft, nicht in Gesellschaften, die einer vertikalen Kontrolle durch die Polizei unterliegen, denn dort wird jeder Versuch, die Zensur zu umgehen, grausam bestraft. Es ist also kein Zufall, dass die zweihundertfünfzigtausend vertraulichen Dokumente, die Wikileaks erhalten hat, von Informanten aus den USA und nicht aus Russland oder China stammen. Die Absichten des Herrn Assange mögen, wie es heißt, vom utopischen und anarchistischen Traum von der vollkommenen Transparenz beflügelt sein, aber seine Aktionen, mit denen er dem »Geheimnis« ein Ende setzen will, dürften wohl eher dazu führen, dass in den offenen Gesellschaften Strömungen hervortreten, die mit dem Argument, es gelte die Vertraulichkeit im Innern des Staatswesens zu verteidigen, Einschränkungen fordern für eines der wichtigsten demokratischen Grundrechte: das Recht auf freie Meinungsäußerung und Kritik.
    In einer freien Gesellschaft wird das Handeln der Regierung kontrolliert von den gewählten Volksvertretern, den Gerichten, der unabhängigen Presse, den politischen Parteien, Institutionen, die selbstverständlich alles Recht der Welt haben, die Lügen und Manipulationen aufzudecken, mit denen gesetzwidrige Taten zuweilen verschleiert werden. Aber was Wikileaks gemacht hat, ist nichts dergleichen, sondern die rücksichtslose Zerstörung der Kommunikationskanäle, auf die Diplomaten und ihre Mitarbeiter angewiesen sind, um die vorgesetzten Stellen über politische, ökonomische und gesellschaftliche Interna aus den Ländern zu informieren, in denen sie ihren Dienst versehen. Ein großer Teil des Materials besteht aus Daten und Einschätzungen, die zwar kaum von Bedeutung sind, deren Verbreitung aber die betroffenen Beamten sehr wohl in eine äußerst heikle Lage bringt; und sie schürt Groll, Empfindlichkeiten und Ressentiments, die die Beziehungen zwischen verbündeten Ländern und ihre Regierungen womöglich nachhaltig beschädigen. Es geht hier nicht darum, eine »Lüge« zu bekämpfen, es geht ausschließlich um die Befriedigung einer allgemeinen krankhaften Neugier – unter den Bedingungen einer immer stärker boulevardisierten Kultur. Herr Assange ist kein großerFreiheitskämpfer, er ist ein erfolgreicher Entertainer, eine Art Oprah Winfrey der Information.
    Wenn es ihn nicht gäbe, hätte unsere Zeit ihn früher oder später erfunden, denn eine solche Gestalt ist geradezu emblematisch für eine Kultur, in der eine Information in dem Maße an Wert gewinnt, wie sie ein gedankenloses, nach Skandalen lechzendes Publikum zu amüsieren vermag, indem sie die Intimsphäre von Prominenten ausleuchtet, ihre Schwächen und Affären zeigt und sie zu den Narren dieser großen Farce macht, die das

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