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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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wäre. Wie gerecht auch immer die Gesetze sind, wie angesehen die mit der Rechtsprechung betrauten Gerichte oder wie rechtschaffen und ehrbar die Regierungen, die meisten glauben, dass Gerechtigkeit niemals eine so greifbare, allen zugängliche Wirklichkeit wird, dass sie den einfachen Menschen, den namenlosen Bürger davor schützt, von den Mächtigen missbraucht, beleidigt und diskriminiert zuwerden. Und so verwundert es nicht, dass Religion und religiöse Praktiken am tiefsten in jenen Schichten und Gruppen der Gesellschaft wurzeln, die am schlimmsten benachteiligt sind und die, weil arm und verwundbar, am ärgsten betrogen und schikaniert werden, was im Allgemeinen ungestraft bleibt. Armut und Erniedrigung lassen sich leichter ertragen, wenn man glaubt, dass all das nach dem Tod gesühnt und wiedergutgemacht wird. (Weshalb Marx die Religion »das Opium des Volks« nannte, eine Droge, die den aufrührerischen Geist der Arbeiter betäubt und ihren Herren erlaubt, sie in Ruhe weiter auszubeuten.)
    Ein weiterer Grund, weshalb sich die Menschen an den Gedanken eines allmächtigen Gottes und eines jenseitigen Lebens klammern, ist das mehr oder weniger ausgeprägte, aber weit verbreitete Gefühl, wenn dieser Gedanke verschwände und als eindeutige wissenschaftliche Wahrheit gälte, dass es Gott nicht gibt und die Religion ein bloßer Schwindel ohne Substanz noch Wirklichkeit ist, würde früher oder später die Barbarei über die Welt kommen und erneut das anarchische Recht des Stärkeren triumphieren, würden sich die grausamsten Neigungen Bahn brechen, die dem Menschen innewohnen und die letztlich nicht von gesetzlichen Konventionen oder einer von der Ratio der Regierenden eingesetzten Moral aufgehalten und abgemildert werden, sondern: von der Religion. Anders gesagt, wenn es etwas gibt, was man noch Moral nennen kann, ein Bündel an Verhaltensnormen, die das Gute, das Miteinander in der Vielfalt, Großzügigkeit, Selbstlosigkeit, Mitleid und die Achtung des Anderen begünstigen und Gewalt, Missbrauch, Raub und Ausbeutung zurückdrängen, dann ist es die Religion, das göttliche Gesetz und nicht das menschengemachte. Ohne dieses Gegenmittel würde das Leben zu einem einzigen Hexentanz, und die Herren der Macht – sei es der politischen, wirtschaftlichen, militärischen oder sonstigen – fühlten sich frei, ihren zerstörerischsten Trieben und Gelüsten die Zügel schießen zu lassen und jede nur erdenkliche Gewalttat zu begehen. Wenn dieses Leben das einzige ist, das wir haben, wenn es danach nichts weiter gibt und wir für immer erlöschen, warum sollten wir da nicht versuchen, es maximal auszuschöpfen, selbst wenn es bedeutete, unseren eigenen Untergang zu beschleunigen und die Welt um uns herum mit den Opfern unserer entfesselten Triebe zu pflastern? Die Menschen wollen an Gott glauben, weil sie nicht auf sich selbst vertrauen. Und die Geschichte zeigt, dass sie damit nicht unrecht haben, denn bisher haben wir uns tatsächlich nicht als vertrauenswürdig erwiesen.
    Das soll natürlich nicht heißen, dass die Geltung der Religion ein Garant wäre für den Sieg des Guten über das Böse, für eine Moral, die der Gewalt und der Grausamkeit in unseren menschlichen Beziehungen wirksam Einhalt geböte. Es bedeutet nur, dass, so schlecht es auch um die Welt bestellt ist, ein Großteil der Menschheit zu der Befürchtung neigt, dass es bedeutend schlechter um sie stünde, wenn Atheisten und radikale Laizisten ihr Ziel erreichten und Gott und die Religion aus unserem Leben rissen. Was allerdings nur eine Ahnung oder Überzeugung sein kann (noch ein Glaubensakt), denn es gibt keine Statistik, die zu beweisen vermöchte, ob es tatsächlich so ist oder andersherum.
    Schließlich gibt es noch einen letzten, philosophischen oder, genauer gesagt, metaphysischen Grund für die tiefe Verwurzelung von Gott und Religion im menschlichen Bewusstsein. Anders als die Freidenker glaubten, genügen weder wissenschaftliche Erkenntnis noch Kultur im Allgemeinen – erst recht nicht eine von der Frivolität zerstörte Kultur –, um den Menschen aus der Einsamkeit zu befreien, in die ihn die Ahnung stürzt, eine jenseitige Welt, ein überirdisches Leben könnte es vielleicht nicht geben. Es ist nicht die Angst vor dem Tod, sondern das Gefühl, hier und jetzt, in diesem Leben, unbeschützt und verloren zu sein. Und dieses Gefühl regt sich im Menschen allein bei dem Verdacht, dass da kein Jenseits ist, von dem aus ein Wesen oder mehrere

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