Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Vorgefasstes: ein Glaubensakt. Es ist unmöglich, rational darzulegen, dass es Gott gibt oder nicht gibt. Jede Beweisführung zugunsten einer der beiden Thesen findet ihr Äquivalent in einer, die dieser These widerspricht, so dass bei dem Thema jede Analyse oder Diskussion, die sich auf das gedanklich Fassbare beschränken will, damit beginnen muss, die metaphysische oder theologische Prämisse – die Existenz oder Nichtexistenz von Gott – auszuschließen und sich auf ihre Folgen und Weiterungen zu konzentrieren: auf die Funktion von Kirchen und Religionen im historischen Werden und kulturellen Leben der Völker, denn dies ist mit den Mitteln der menschliche Ratio sehr wohl überprüfbar.
Als wesentliches Faktum gilt es zunächst zu berücksichtigen, dass der Glaube an ein höheres Wesen, Schöpfer aller Dinge, und an ein Leben, das dem irdischen vorausgeht und folgt, Teil aller bekannten Kulturen und Zivilisationen ist. Von dieser Regel gibt es keine Ausnahme. Alle haben ihren Gott oder ihre Götter, und alle vertrauen auf ein Leben nach dem Tod, auch wenn die besonderen Merkmale dieser Transzendenz je nach Zeit und Ort variieren. Aber wieso haben sich die Menschen aller Epochen und Weltgegenden einen solchen Glauben zu eigen gemacht? Atheisten antworten sofort: aus Unwissenheit und Angst vor dem Tod. Die Menschen wollen sich, wie informiert oder kultiviert sie auch sind, nicht mit dem Gedanken an ein vollkommenes Erlöschen abfinden, mit der Tatsache, dass ihre Existenznur vorübergehend und zufällig ist, und deshalb brauchen sie die Existenz eines anderen, von einem höheren Wesen bestimmten Lebens. Je größer die Unwissenheit, desto größer die Macht der Religion. Sobald die wissenschaftliche Erkenntnis den Aberglauben aus den Köpfen der Menschen verbannt und durch objektive Wahrheiten ersetzt hat, beginnt das ganze künstliche Konstrukt der Kulte und religiösen Anschauungen, mit denen schlichtere Gemüter versuchen, sich die Welt, die Natur und das Jenseits zu erklären, Risse zu bekommen. Dies ist der Anfang vom Ende einer solchen magisch-irrationalen Deutung von Leben und Tod, die Religion verliert ihre Kraft und verflüchtigt sich.
So weit die Theorie. In der Praxis ist dies nicht geschehen, und es sieht auch nicht so aus, als ob es jemals passiert. Wissenschaft und Technik haben sich auf erstaunliche Weise entwickelt, seit der Mensch die Höhle verließ, haben ihm erlaubt, die Natur, den Himmelsraum, den eigenen Körper bis in den letzten Winkel zu erkunden, Vergangenheiten zu erforschen, entscheidende Schlachten gegen alle erdenklichen Krankheiten zu schlagen und die Lebensbedingungen der Völker zu verbessern, wie unsere Vorfahren es sich nicht hätten vorstellen können. Aber diese Entwicklung hat es weder geschafft, Gott aus dem Herzen der allermeisten Menschen zu verjagen, noch die Religionen niederzuringen. Atheisten argumentieren, es sei ein noch unabgeschlossener Prozess, der Vormarsch der Wissenschaft werde nicht aufgehalten, es gehe voran, früher oder später komme das Ende dieses atavistischen Kampfes, bei dem Gott und die Religion von den wissenschaftlichen Wahrheiten aus dem Leben der Völker vertrieben würden. Doch was für die Liberalen und Fortschrittsgläubigen des neunzehnten Jahrhunderts geradezu ein Dogma war, scheint wenig einleuchtend, sieht man sich die Welt von heute an, denn sie widerspricht dem in allem: Wir sind rings von Gott umgeben, und politisch verbrämt richten die religiösen Kriege wieder und weiter so viele Verheerungen an wie im Mittelalter. Was nicht beweist, dass es Gott tatsächlich gibt, allerdings, dass eine große Mehrheit der Menschen, darunter viele herausragende Wissenschaftler, sich nicht damit abfindet, auf ein göttliches Wesen, das ihnen ein Weiterleben nach dem Tod garantiert, zu verzichten.
Außerdem ist es nicht nur die Angst vor dem Tod und dem körperlichen Vergehen, die den Transzendenzgedanken durch die Geschichte hindurch wachgehalten hat. Es ist auch die Überzeugung, dass es, um dieses Leben zu ertragen, eines höheren Ortes als hienieden bedarf, wo das Gute belohnt wird und das Böse bestraft, wo unterschieden wird zwischen guten und schlechten Taten, wo die Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten wiedergutgemacht und jene zur Rechenschaft gezogen werden, die sie uns zufügen. Wahr ist, dass es keine Gesellschaft gibt, in der das Gros der Bevölkerung nicht spürte oder fest daran glaubte, dass völlige Gerechtigkeit nicht von dieser Welt
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