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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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öffentliche Leben geworden ist. Auch wenn von »öffentlichem Leben« zu sprechen vielleicht nicht mehr ganz richtig ist, denn damit es eines gibt, müsste es auch sein Pendant geben, das »Privatleben«. Das aber existiert praktisch nicht mehr.
    Denn was ist heute noch privat? Als unfreiwillige Folge der digitalen Revolution haben sich die Grenzen, die das Private vom Öffentlichen trennten, in Luft aufgelöst, und beides hat sich in einem Happening vermengt, bei dem wir alle zugleich Zuschauer und Darsteller sind, stolz unser Privatleben vorführend und amüsiert das Leben der anderen betrachtend, ein kollektiver Striptease, wo nichts bleibt als eben die krankhafte Neugier eines von der Albernheit verdorbenen Publikums.
    Das Verschwinden des Privaten, die mangelnde Achtung der Privatsphäre, die, von allen begafft, zu einer bloßen Parodie geworden ist, und eine Medienindustrie, die diesen allgegenwärtigen Voyeurismus unablässig und hemmungslos speist, sie sind ein deutliches Zeichen von Verrohung. Denn ohne die Dimension des Privaten verkommen viele der schönsten menschlichen Hervorbringungen: Erotik, Liebe, Freundschaft undScham, Formen des Umgangs und der Kunst, das Heilige, die Moral.
    Dass ordnungsgemäß gewählte Regierungen von Revolutionen gestürzt werden, die das Paradies auf Erden versprechen (auch wenn es meist eher die Hölle wird), muss man hinnehmen. Und dass Länder Konflikte und selbst blutige Kriege austragen, um unvereinbare Religionen, Ideologien oder sonstige Ambitionen zu verteidigen, muss man beklagen. Aber dass es zu solchen Tragödien kommt, weil im Wohlstand badende Zeitgenossen, die sich langweilen, einen starken Kick brauchen und ein internetter Schlaukopf wie Julian Assange ihnen gibt, was sie wollen, nein, das kann und darf nicht sein.
    El País , Madrid, 16. Januar 2011

VI
Das Opium des Volks
    Anders als die Freidenker, Agnostiker und Atheisten des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts sich vorstellten, ist die Religion in unserer heutigen postmodernen Ära nicht tot und begraben, noch zählt sie zum alten Eisen: sie ist quicklebendig und mitten unter uns.
    Natürlich lässt sich kaum herausfinden, ob die Frömmigkeit der Gläubigen und Praktizierenden der verschiedenen Religionen auf der Welt zugenommen oder abgenommen hat. Aber niemand wird leugnen, welchen Raum das Thema Religion im gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben heute einnimmt, einen vielleicht sogar noch größeren als im neunzehnten Jahrhundert, als man in einer Vielzahl von Ländern beiderseits des Atlantiks vehement für und wider die Trennung von Kirche und Staat stritt.
    So ist eine zentrale Figur des aktuellen politischen Geschehens, der Selbstmordattentäter, ein Nebenprodukt der fundamentalistischsten und fanatischsten Spielart des Islams und damit nicht von der Religion zu trennen. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Kampf von Al Kaida und ihrem Anführer, dem getöteten Osama bin Laden, immer in erster Linie ein religiöser gewesen ist, ein reinigender Schlag gegen die frevlerischen Muslime und Abtrünnigen des Islams sowie gegen die Ungläubigen, Nazarener (Christen) und den verkommenen Westen, angeführt von den USA, dem Großen Satan. Inder arabischen Welt haben die gewalttätigsten Konfrontationen einen eindeutig religiösen Charakter, und bis heute hat der islamistische Terror unter den Muslimen mehr Opfer gefordert als unter den Gläubigen anderer Religionen; vor allem wenn man berücksichtigt, wie viele Menschen im Irak von schiitischen und sunnitischen extremistischen Gruppen getötet oder verstümmelt oder in Afghanistan von den Taliban ermordet wurden, jener fundamentalistischen Bewegung, die sich in den afghanischen und pakistanischen Koranschulen formierte und, genau wie Al Kaida, nie gezögert hat, Muslime zu ermorden, die ihren Puritanismus nicht teilen.
    All die Zwistigkeiten und Konflikte, mit denen die muslimischen Gesellschaften geschlagen sind, haben nicht im Geringsten dazu beigetragen, den Einfluss der Religion auf das Leben der Völker zu verringern, sie haben ihn nur noch verschärft. Der Laizismus jedenfalls hat nicht an Boden gewonnen, und mit dem Erstarken von politischen Kräften wie der libanesischen Hisbollah (»Partei Gottes«) und der Hamas, die in sauberen Wahlen die Kontrolle über den Gazastreifen erlangte, sind dort die Gruppen, die sich für einen säkularen Staat einsetzen, in den letzten Jahren geschrumpft. Parteien wie die Hisbollah und die Hamas

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