Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
Zauber und den religiös-psychedelischen Reden von solchen Gestalten erlagen wie dem Vater des LSD, Timothy Leary, dem Maharishi Mahesh Yogi, Lieblingsguru der Beatles, oder dem koreanischen Propheten der Moonies und ihrer Vereinigungskirche, Reverend Sun Myung Moon.
    Viele haben diese wiedererwachte Religiosität kaum ernst genommen, zu einfältig und oberflächlich kam sie daher mit ihrem bunten Gepränge, ihrem Budenzauber wie im Kintopp und all den Kulten oder Kirchen, die von einer so geschmacklosen wie schrillen Reklame beworben wurden wie sonst Haushaltsprodukte. Aber dass sie neu sind, zuweilen grotesk verlogen, und dass sie die Arglosigkeit, Unkultur und Frivolität ihrer Anhänger ausnutzen, steht der Tatsache nicht entgegen, dass sie ihnen einen spirituellen Dienst erweisen und helfen, eine Leere in ihrem Leben auszufüllen, genauso ergeht es Millionen von Menschen mit den traditionellen Kirchen. Anders lässt sich auch nicht erklären, dass einige dieser neueren Kirchen, so die von L. Ron Hubbard gegründete und von Hollywood-Stars wie Tom Cruise und John Travolta unterstützte Church of Scientology, ein wahres internationales Wirtschaftsimperium geschaffen und herben Anfechtungen widerstanden haben, in Deutschland etwa, wo man den Scientologen Gehirnwäsche und die Ausnutzung Minderjähriger vorwarf. Jedenfalls verwundert es nicht, dass in der Kultur des Gaukelspiels die Religion sich dem Zirkus annähertund manchmal kaum noch davon zu unterscheiden ist.
    Wenn wir Bilanz ziehen und uns ansehen wollen, welche Funktion die Religionen im Laufe der Menschheitsgeschichte gehabt haben, müssen wir jedoch scharf trennen zwischen den Auswirkungen im individuell-privaten Bereich und im öffentlich-gesellschaftlichen. Man darf sie nicht durcheinanderwerfen, denn sonst gingen nicht nur Nuancen verloren, sondern grundlegende Tatsachen. Dem Gläubigen und Praktizierenden hilft seine Religion natürlich, sei es eine alte, fundierte, im Volk verankerte Religion oder eine neue, oberflächliche, sehr kleine. Sie erlaubt ihm, sich zu erklären, wer er ist und was er tut in dieser Welt, bietet ihm eine Ordnung, eine Moral, nach der er seine Existenz und sein Verhalten ausrichten kann, eine Hoffnung auf Unvergänglichkeit, einen Trost im irdischen Unglück und jene Erleichterung und Sicherheit, die einem das Gefühl schenkt, einer Gemeinschaft anzugehören, welche Glauben, Riten und Lebensformen teilt. Vor allem für die Leidgebeugten und Sorgenschweren, von Armut, Missbrauch und Ausbeutung Geschlagenen ist die Religion eine rettende Planke, an die sie sich klammern können, um nicht einer Verzweiflung zu erliegen, die ihnen die Fähigkeit nimmt, auf das Unglück zu reagieren, und sie zum Selbstmord drängt.
    Auch gesellschaftlich lässt sich aus der Religion viel Positives herleiten. So war die christliche Predigt der Vergebung seinerzeit eine echte Revolution, eine Vergebung, die selbst die Feinde einschloss, die zu lieben Jesus lehrte, dazu die Umdeutung der Armut in einen moralischen Wert, von Gott belohnt in einem Lebenim Jenseits (»die Letzten werden die Ersten sein«), oder die Verurteilung des Reichtums und der Reichen durch Jesus im Matthäusevangelium: »Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.« Das Christentum formulierte eine universelle Brüderlichkeit, bekämpfte Ressentiments und Feindschaft zwischen den Stämmen, Völkern und Kulturen und verfocht, dass ausnahmslos alle Menschen Kinder Gottes seien und willkommen im Hause des Herrn. Auch wenn es dauerte, bis diese Vorstellungen sich durchsetzten und im Handeln der Staaten und Regierungen ihren Niederschlag fanden, trugen sie doch dazu bei, die brutalsten Formen von Ausbeutung, Diskriminierung und Gewalt zu mildern und das Leben zu humanisieren; und sie schufen die Grundlage für das, was später mit der Anerkennung der Menschenrechte, der Abschaffung der Sklaverei, der Verurteilung des Völkermords und der Folter manifest wurde. Mit anderen Worten, das Christentum hat einen entscheidenden Anstoß gegeben zur Entstehung der demokratischen Kultur.
    Doch während es mit der Philosophie, die seiner Lehre innewohnt, dieser Sache diente, war das Christentum vor allem in Gesellschaften, die keinen Prozess der Säkularisierung durchlaufen hatten, zugleich eines der größten Hindernisse für die Ausweitung und Verwurzelung der Demokratie. Darin unterscheidet sich die christliche in nichts von anderen

Weitere Kostenlose Bücher