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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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Fotografieren.«
    »Das kann doch sein, dass er so technische Interessen hat als Laborant …«
    »Aber dafür brauchte er eine gute Spiegelreflexkamera, eine wirklich gute, keine Knipse aus dem Kaffeeshop, sagt Rhomberg. Nach der Digitalkennung auf den Fotos war es eine Canon. Hochpreissegment.«
    Schoder beugte sich leicht vor, wie er es immer tat, wenn ihn etwas zu interessieren begann.
    »Und die Ausrüstung?«
    »Nichts. Keine Objektive, keine Fototasche. Aber ein Stativ.Ein sehr gutes, sagt Rhomberg. Und Fotobücher, also keine mit Bildern … Fachliteratur.«
    »Die einfachste Erklärung wäre: Er ist auf Urlaub, hat das ganze Fotogerümpel mitgenommen.«
    »Klar – wenn er denn auf Urlaub wäre. Ist er aber nicht. Er ist verschwunden.«
    »Ein Missverständnis? Hat geglaubt, den Urlaubsantrag abgegeben zu haben, Urlaub wurde mündlich bewilligt, der eine denkt, er hat das gesagt, der andere jenes …«
    Daran hatte Weiß nicht gedacht. Es wäre die blöde Lösung, wo sich am Schluss alle mit der flachen Hand auf die Stirn hauen. Und lachen. Außer Spesen nichts gewesen. Die blöde Lösung, wie er sie bei sich nannte, kam öfter vor, als der Laie sich das vorstellen konnte. Nicht alle Ereignisketten, die mit einem merkwürdigen Vorfall anfingen, endeten mit einem düsteren Verbrechen. Weiß hasste die harmlose Variante, weil man da am Ende irgendwie als Trottel dastand. Besonders die Polizei. Schoder liebte die blöde Lösung, kein Wunder, dass der Einfall von ihm kam. Die Auflösung aller Probleme in Wohlgefallen war sein Ideal. Er hatte es gern, wenn die Kausalketten sich auf ein idiotisches Missverständnis zurückführen ließen. In diesem Bild waren die Menschen harmlose Idioten. Weiß glaubte das nicht. Dass die Menschen zum großen Teil Idioten waren, mochte sein. Aber harmlos waren sie nicht.
    Chefinspektor Nathanael Weiß glaubte, dass die Menschen böse waren. Sonst hatte er keine religiöse Überzeugung. Aber er glaubte an das Böse im Menschen. Ihr Sinnen und Trachten war auf das Dunkle, aus gutem Grund Verbotene gerichtet wie ein angeborener Trieb. Ließe man sie diesen Trieb ausleben, wäre das Chaos vorprogrammiert, die Zivilisation würde zusammenbrechen. Und zwar innerhalb weniger Tage. Es ging nicht um Geld und Gier und Sex und das ganze Zeug – daswurde nur vorgeschoben, um den Drang, Böses zu tun, zu verdecken, zu kaschieren, weil die meisten Menschen mit der Einsicht in ihre schwarze Seele nicht leben konnten. Deshalb, und nur deshalb, gab es explizit ausformulierte Gesetze, die man dann übertreten konnte. Die Angelegenheit fächerte sich auf einen Codex mit Hunderten Paragraphen auf. Aber im Grunde gab es nur eine einzige Tat, die böse Tat. Jeder wusste, was eine böse Tat war, dazu hätte niemand ein Gesetzbuch gebraucht oder Rechtsgelehrte. Deshalb war auch das Rechtssystem so kompliziert: Es sollte die Fiktion aufrechterhalten werden, die Sache mit Gut und Böse sei verworren und verwickelt, sie zu durchschauen, erfordere Fachleute mit jahrelanger Ausbildung – dabei wusste jeder, was gut und was böse war, von klein auf. Und jeder tat das Böse, wenn er die Gelegenheit hatte. Auch von klein auf. Die Normalbürger nützten die Gelegenheit, die Verbrecher suchten sie. Darin bestand der Unterschied. Böses zu tun, war für die Menschen so natürlich wie atmen, vielleicht war es sogar so notwendig wie atmen, darüber hatte Nathanael Weiß oft nachgedacht, war aber zu keiner tieferen Erkenntnis gekommen, außer der betrüblichen, dass durchaus die Möglichkeit bestand, der Mensch sei eine metaphysische Fehlkonstruktion – aber eben: Metaphysik, Philosophie, das brachte ihn in der Praxis nicht weiter.
    Kein Zweifel, die blöde Lösung existierte, sie war aber ein Produkt des Zufalls, ein Spiel möglicher Abläufe, eine Verkettung von Umständen, das ging die Polizei nichts an. Der eigentliche Gegenstand polizeilichen Handelns war die böse Lösung: das Verbrechen. Vielleicht hatte Schoder recht und Mathis war in Urlaub gefahren, ohne jemandem etwas davon zu sagen. Ein Idiot. Er würde in vierzehn Tagen oder drei Wochen auftauchen und aus allen Wolken fallen.
    »Ich werde das nachprüfen«, sagte er. »Hat er vielleichtschon einmal gemacht oder so …« Dass Koffer im Haus gefunden wurden, war noch kein Argument gegen die Hypothese. Sie konnten niemanden fragen, wie viel Reiseausrüstung Mathis besaß, wussten nicht, was davon fehlte.
    Schoder erhob sich, machte noch ein paar

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