Alles Fleisch ist Gras
allgemeine Bemerkungen, die Weiß vergaß, nachdem sie ausgesprochen waren. Schoder ging. Weiß bestellte einen Wagen.
*
»Wieso ist dann das Auto noch da?«, fragte Galba. Weiß hatte ihm von Schoders Urlaubshypothese erzählt. Galba fand die Hypothese gut, sogar ausgezeichnet, aber leider völlig unbrauchbar. Hätte ihm selber einfallen sollen. Gleich am Anfang. Ja, Mathis hat so was schon einmal gemacht, vor … wann war das … drei Jahren, glaub ich … ist verschwunden … Aber das ging nicht, das konnte er nicht sagen. Denn Weiß würde die anderen fragen. Die Urlaubsplanung war ein so wichtiger Teil der innerbetrieblichen Kommunikation, dass es ein Versehen wie das vom Chefinspektor Schoder angenommene nicht geben konnte. Wenn die Leute auch wenig miteinander sprachen, über den Urlaub sprachen sie doch. Wer als Nächster welchen bekäme, was er da machte und so weiter. Das sagte er Weiß aber nicht. Sondern fragte nach dem Auto, das vor dem Haus des Roland Mathis stand.
»Er hätte ein Taxi nehmen können«, sagte Weiß.
»Um wohin zu fahren? Nach Friedrichshafen?«
»Nach Altenrhein.«
»Von Altenrhein hat er nie was gesagt. Wenn er geflogen ist, dann von Stuttgart aus oder Friedrichshafen.«
»Er hat also von seinem Urlaub gesprochen?«
»Ja, natürlich. Das tun doch alle.«
Weiß sagte nichts mehr, trat näher ans Geländer. Sie standen auf der Plattform des südlichen Faulturms, eine ringförmige Gitterterrasse rund um die Spitze des Kegels, der den Turm oben abschloss.
»Dein Reich«, sagte Nathanael Weiß und wies mit großzügiger Geste über die sieben Hektar große Anlage, die sich am Fuß des Gärturms nach Norden erstreckte. Anton Galba wusste nicht, was er darauf antworten sollte. War das die ironische Einleitung eines Verhörs? Würde er nun mit jener winzigen Einzelheit konfrontiert, die er übersehen hatte? Früher waren es in den Serienkrimis immer verzwickt konstruierte Fehler, die dem Betreffenden dann zum Verhängnis wurden; Fehler, die der Zuschauer, wenn er nur ein wenig aufpasste, schon im Augenblick des Geschehens als solche identifizieren konnte. Galbas Frau Hilde war darin gut. Galba nicht. Nicht nur, dass er solche Fehler übersah, und zwar jedes Mal, er war hinterher auch in den meisten Fällen nicht in der Lage, die Fehler zu verstehen, wenn sie ihm von Hilde erklärt wurden – erklärt mit einem leicht hysterischen Unterton, den herauszuhören ihn die Ehejahre gelehrt hatten, so dass er dann mit Aha! und Ach so! und ähnlichen Äußerungen ebenso plötzliches wie begeistertes Verstehen simulierte. Einfach nur, um ihr die Einsicht zu ersparen, dass sie einen Idioten geheiratet hatte, der nicht in der Lage war, die Intrigen eines 08/15-Krimis zu begreifen.
In den neueren Erzeugnissen des Kriminalfilmgewerbes wurden die Täter gefasst, weil sie ihre DNS in der Gegend verspritzten wie ein sich schüttelnder Hund die Nässe, wenn er aus dem Wasser kommt; mit Logik hatte das nichts zu tun, nur mit Biologie, es gab da keine Fehler zu vermeiden, keine Kleinigkeiten zu beachten oder eben zu übersehen, Galba gefiel das. Wenn Weiß aber einer vom alten Schlag war, hätte erkeine Chance. Er würde sich nicht nur in Widersprüche verwickeln, er hatte das schon getan. Hilde, wäre sie nur dabei gewesen, hätte ihm auch sagen können, in welche. Aber Fehler, Widersprüche, übersehene Kleinigkeiten – das alles kam erst zum Tragen, wenn ein Verbrechen vorlag. So etwas gab es nicht. Die Voraussetzung dazu war der tote Roland Mathis. Zu verschwinden genügte nicht, keineswegs. Er musste schon wieder auftauchen und tot sein. Und nicht nur tot, sondern gewaltsam ums Leben gekommen. Durch Fremdeinwirkung. All diese Bedingungen mussten erfüllt sein, dass man von einem Verbrechen sprechen konnte. Und schon die erste, das Auftauchen, konnte sich Anton Galba nicht vorstellen. Beim besten Willen nicht.
Weiß schien keine Antwort auf seine ironische Eröffnung zu erwarten. Er lehnte am Geländer der Plattform, blickte auf die Nachklärbecken hinunter.
»Glaubst du, er liegt dort drin?«, fragte Galba. Er konnte nicht anders.
»Welches Becken meinst du denn?«
»Irgendeines, kein bestimmtes … weil du …«
»… Die zwei da vorn, was sind das für Becken«, unterbrach ihn Weiß, »was ist da drin?«
»Die direkt unter uns sind die Vorklärbecken, da setzt sich der Primärschlamm ab. Von dort …«
»… Der was?«
»Primärschlamm. Das ist das feine Zeug, das im Abwasser
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