Alles Fleisch ist Gras
Verdrehung der tatsächlichen Gegebenheiten, vom Unbewussten in Szene gesetzt, um ihn zu beruhigen oder so, was so weit gelungen war, als er sich einer anspruchsvollen Romanlektüre widmen konnte … Was nun als Erstes eine Rolle in seinem Leben spielte, war allerdings nicht Frau Hopfner, sondern deren Mann, der das Zimmer ohne anzuklopfen betrat, die Tür hinter sich mit mehr Getöse zumachte, als nötig war, und mit den Worten »Was willst du von meiner Frau?« auf Nathanael Weiß zukam. Der hatte sich umgedreht und sah einen Streit suchenden Hopfner, geballte Fäuste, ein blasses Gesicht mit dazupassender schweißnasser Stirn und links und rechts von dieser jene beiden Adern, die bei großer Wut hervorzutreten pflegen. Weiß stand nicht auf. Allein dadurch kommt ihm eine gewisse Schuld zu, wenn man Handlungen unter dem Gesichtspunkt betrachtet, was alles aus ihnen hervorgeht. So gesehen könnte man das Nichtaufstehen des Chefinspektors Weiß als letzten Grund, als kausalen Ursprung des Schicksals des Gerhard Hopfner ansehen. Nämlich: Wäre der Polizist aufgestanden, so hätte seine imposante Gestalt, hier im Gestalt- Sinn, das ganze Polizistenwesen einbegreifend, so hätte also dieser Eins-neunzig-Brocken Mensch dem kleineren Hopfner die Grenzen deutlich vor Augen geführt. Und ihn davon abgehalten, jenes aggressive Verbalverhalten an den Tag zu legen, das die Situation in wenigen Sekunden weit über jedes Maß hinaus eskalieren ließ.
Nein, wir können Chefinspektor Weiß nicht von der Schuld freisprechen, diese Lage nicht nur nicht verhindert, sondern mit Absicht herbeigeführt zu haben, nahm er doch auf seinem Stuhl eine für ihn untypische, zusammengesackte Haltung ein, er machte sich im Sitzen kleiner und zeigte auch den leicht verblödeten Gesichtsausdruck von Menschen, die aus einer geistigen Tätigkeit herausgerissen werden; ebendieserAusdruck, das beschissene Grinsen , wie die Gewalttäter hinterher zu Protokoll geben, ist ihr Auslösereiz. Chefinspektor Weiß wusste um seine Wirkung auf jemanden wie Hopfner, er wusste nicht nur, wie die Szene weitergehen, sondern auch, wie die ganze Geschichte mit diesem Hopfner enden würde – das erschien mit großer Klarheit vor seinem geistigen Auge, nur den Bruchteil einer Sekunde lang, und ihn schauderte. Aber eben auch nur einen Sekundenbruchteil lang. Dann zwang ihn Hopfner, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, der hatte ihn am Hemd gepackt und hochzuziehen versucht; Weiß ließ sich auch ziehen, von außen sah das komisch aus, weil Hopfner so viel schwächer war, Giftzwerg und gutmütiger Riese, eine seichte Filmkomödie. Ein Strom von absurden Drohungen ergoss sich über Weiß, er badete darin.
Wenn du noch einmal mit meiner Frau … Ich brech dir alle Knochen, du beschissener Bulle … Was glaubst du, wer du bist … Die letzte, gleichsam hochphilosophische Formulierung war nun aber der ersehnte Auslösereiz für Nathanael Weiß. Denn in der Tat wusste er nicht, wer er war (wer von uns weiß das schon?), und dieses Nichtwissen, das Schweigen auf die Frage Wer bin ich? ließ ihn handeln, um es herauszufinden; ebendiese nicht beantwortete, vielleicht nicht beantwortbare Frage lässt auch uns alle das tun, was wir uns einbilden tun zu müssen – freilich nicht alle so wie Chefinspektor Weiß, der nun aufstand und eine leichte, kaum sichtbare Bewegung mit dem Knie ausführte, worauf Gerhard Hopfner den Mund weit aufriss, weil er schreien musste, aber nicht konnte, es war nicht viel zu hören, mehr Luft als Ton, dabei klappte er zusammen, rollte auf dem Boden hin und her, die Hände im Schritt, die Beine angezogen. Als er endlich wieder genug Luft bekam, um den Schrei auszustoßen, der dem entsetzlichen Schmerz in den Hoden entsprach, trat ihm Weiß mit einer spielerischen,fast zärtlichen Bewegung der Ferse in den Oberbauch, trat ihm dadurch die Luft ab. Weiß bückte sich, hob den stumm mit weit aufgerissenem Mund sich Krümmenden unter den Achseln hoch, zog ihn mit einiger Behutsamkeit ins Badezimmer, drapierte ihn dort vor der Klomuschel in kniender Position, den Kopf über der Öffnung, und löste mit einem leichten Tiefschlag Erbrechen aus.
»Du schlägst sie doch?«, fragte er mit leiser Stimme, als das Würgen beendet war. »Du schlägst sie doch, deine Frau, so ist es doch, oder?«
Hopfner ließ ein tiefes Stöhnen hören, er zitterte am ganzen Körper, Tränen liefen ihm übers Gesicht.
»Das ist keine Antwort«, sagte Nathanael Weiß, »ich
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