Alles ganz Isi - Islaendische Lebenskunst fuer Anfaenger und Fortgeschrittene
flexiblere Arbeitszeiten, ist jedoch auch oft unterwegs.
Da es bei vier Kindern im Alter von drei bis 14 Jahren viel zu koordinieren gibt, nimmt er manchmal eine Tochter oder einen Sohn mit auf Termine.
Zwei Wahrzeichen Reykjavíks: Sólfar (Sonnenfahrt), ein stilisiertes Wikingerschiff
Einmal fuhr er mit mir in eine Gegend außerhalb Reykjavíks und zeigte mir ein neues Projekt, sein ältester Sohn war mit dabei,
hörte Musik. Auf dem Rückweg sagte Andri, er müsse noch schnell zwei Töchter bei seinen Eltern abholen. Kurz vorher kündigte
er sich übers Handy an: »Papa, hast du deine Hose an? Ich hole die Mädels ab und komme mit einer Journalistin vorbei.« Man
muss sich das in etwa so vorstellen, als hätte icheinen Interviewtermin mit Günther Jauch – denn ebenso berühmt wie der Showmaster in Deutschland ist der Schriftsteller in
Island –, und Jauch fährt mit mir bei seinen Eltern vorbei. Der Vater hatte eine Hose an, obwohl er es wohl liebt, in Shorts durchs
Haus zu laufen, und begrüßte den Besuch freudestrahlend. Wie in Island üblich, zieht man beim Betreten eines Hauses seine
Schuhe aus und bekommt Kaffee angeboten. Kurz darauf saßen wir in Socken auf Küchenstühlen und diskutierten über die aktuellen
politischen Ereignisse. Berühmtheit wird hier nicht so ernst genommen, und für mich war es freilich sehr interessant, die
Eltern des Interviewpartners kennenzulernen, ein paar Geschichten aus seiner Kindheit zu hören. Vielleicht hätte Andri Snær
diesen Schlenker nicht gemacht, wenn wir uns nicht schon zuvor zwei Mal getroffen hätten, dennoch spiegelt es die Offenheit
wider, mit der Familienmitglieder zum Alltag gehören. Und mit der auch Prominente ihre Haustüren öffnen.
Zwei Wahrzeichen Reykjavíks: die das Stadtbild überragende Hallgrímskirche
Es gibt kaum eine Konferenz, Ausstellungseröffnung oder Feier, bei der nicht Kinder dabei sind. Und während die Eltern in
Cafés ihren Latte Macchiato schlürfen und Möhrenkuchen essen, schlummern ihre Babys draußen im Kinderwagen. Die Eltern haben
natürlich ein Auge auf sie, aber man vertraut sich. Früher ging es sogar so weit, dass selbst in Reykjavík die Haustüren nicht
abgeschlossen wurden. Das ist heute nur noch auf den Dörfern und in Kleinstädten so.
Vier Kinder! Sind die alle vom selben Partner?
Während die meisten bei uns irgendwann in ihrem Leben an den Punkt kommen, wo sie sich fragen, ob und wann sie Kinder haben
wollen, stellt sich diese Frage in Island erst gar nicht: Sie wachsen mit dem Selbstverständnis auf, dass sie eigene Kinder
haben werden, sofern es denn klappt.
Nachwuchs ist immer willkommen, ob er nun geplant war oder das Ergebnis eines One-Night-Stands. So schafften es die Isländer
seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, also kurz nach ihrerUnabhängigkeit, die Bevölkerung von rund 130 000 mittlerweile mehr als zu verdoppeln. Laut Eurostat bekommen sie europaweit die meisten Kinder. Andri Snærs Familie ist
in Island also nicht exotisch, ungewöhnlich ist eher, dass alle vier Kinder von derselben Frau sind. Denn Schätzungen zufolge
soll jede dritte Familie eine Patchworkfamilie sein, bei uns ist es ungefähr jede zehnte.
Kinder überall, hier auf einer Demo am 1. Mai
Manche nennen sie Misch- oder Stieffamilien, doch zumindest letztere Bezeichnung hat immer noch das Odium des Negativen, ja
sogar des Bösen. Insofern beschreibt »Patchworkfamilie« die Lage am ehesten, denn wie bei einer Quilt-Decke werden verschiedene
Stücke zu einem neuen Ganzen zusammengefügt. Der Begriff ist übrigens wie das Wort »Handy« eine deutsche Kreation. Dass inzwischen
auch bei uns Patchworkfamilien allmählich zum Alltag gehören, sieht man zum Beispiel daran, dass das Möbelhaus Ikea im deutschen
Fernsehen Werbespots ausstrahlt, die das Zusammenziehen zweier neuer Partner samt jeweils eigenem Nachwuchs thematisieren.
Trotzdem wird bei uns, anders als in Island, nur selten über diese neue Familienform gesprochen, viele sehen sie hier noch
als Makel an, als ein Scheitern.
Natürlich trennen sich die Isländer nicht leichtfertig, aber sie quälen sich auch nicht zehn Jahre in einer unglücklichen
Beziehung, nur weil sie kleine Kinder haben. In Island sind die Familienkonstellationen traditionell ungewöhnlich. Schon in
der Großelterngeneration wuchsen einige damit auf, dass der Vater sechs Kinder mit einer anderen Frau hatte oder die Witwe
eines
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