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Alles ganz Isi - Islaendische Lebenskunst fuer Anfaenger und Fortgeschrittene

Alles ganz Isi - Islaendische Lebenskunst fuer Anfaenger und Fortgeschrittene

Titel: Alles ganz Isi - Islaendische Lebenskunst fuer Anfaenger und Fortgeschrittene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alva Gehrmann
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Probleme haben, ist Sozialarbeiterin Valgerður Halldórsdottir da. Sie führt Coaching-Gespräche und hat seit einigen
     Jahren die Website »Stjúptengsl«, was so viel wie »Stiefbeziehungen« bedeutet. »Einige verschweigen ihre Stiefkinder anfangs«,
     berichtet Valgerður, »oder sie wissen nicht, wie sie mit ihnen umgehen sollen.« Sie fragen: »Muss ich das Kind meines Partners
     lieben wie eine Mutter?« Natürlich nicht, erklärt die Expertin ihnen dann. Aber es sei wichtig, dass alle Mitglieder aus den
     neu zusammengesetzten Familien offen über ihre Gefühle sprechen.
    Valgerður weiß auch privat, wovon sie spricht. Schon ihre Eltern wuchsen in einer solchen Konstellation auf, ebenso ihre inzwischen
     erwachsenen Kinder. Die gaben Valgerður für ein Buch, das sie gerade über das Thema geschrieben hat, folgenden Tipp mit auf
     den Weg: »Lasst die Eltern Eltern sein und die Stiefeltern eine gute Ergänzung.«
    Der Nachteil dieser kinderreichen Gesellschaft ist der Makel, keine zu haben. Für manche ist der Druck, Nachwuchs zu bekommen,so groß, dass sie für eine Weile ins Ausland gehen. In Deutschland schaut einen niemand komisch an, wenn mit 33   Jahren noch andere Dinge im Vordergrund stehen, man reisen will oder sich ausschließlich auf die Karriere konzentriert. »Wer
     bei uns mit 25 kein Kind hat, mit dem stimmt etwas nicht«, sagte mir ein Isländer mal, der selbst vierfacher Vater ist. Das
     sollte zwar nur ein flapsiger Spruch sein, er zeigt jedoch das Weltbild dahinter. Die wenigen kinderlosen Isländerinnen müssen
     sich von engsten Verwandten schon mal anhören, sie seien keine vollwertigen Frauen. Und Paaren, die mehr als fünf Jahre ohne
     Nachwuchs zusammen sind, wird per Ferndiagnose Unfruchtbarkeit unterstellt.
    Der Druck geht sogar so weit, dass selbst Schwule und Lesben ständig gefragt werden, ob sie denn nicht Kinder adoptieren wollen.
     Da kann Jóhanna Sigurðardóttir, die erste offen homosexuelle Regierungschefin der Welt, nur froh sein, dass sie früher mit
     einem Mann verheiratet war und zwei Söhne bekam. Auch Jóhannas Ehefrau ist Mutter eines Sohnes. Bei der alljährlichen Gay
     Parade, die in Reykjavík ein ähnlich großes Event ist wie für die Kölner der Karneval, wird der Wert der Kinder ebenfalls
     deutlich: Auf den bunt geschmückten Wagen ist kaum Platz für die homosexuellen Teilnehmer, weil die schon voller kostümierter
     Kinder sind.

Das allerletzte Blatt
    Die Verbundenheit der Isländer geht bis in den Tod. Und im Prinzip ist nur tot, wer einen Nachruf bekommt. Anders als in Deutschland
     wird nicht nur berühmter Verstorbener gedacht, sondern jedes Toten. Auf der Insel ist eben jeder wichtig. Und daher veröffentlicht
     Islands älteste Tageszeitung ›Morgunblaðið‹täglich rund fünfzig Nachrufe für fünf Verstorbene. Geschrieben werden sie nicht von Journalisten, sondern von Verwandten,
     Freunden, Kollegen oder einfach nur Bekannten.
    Die kostenlos veröffentlichten Nachrufe, die auf Isländisch »Minningar«, Erinnerungen, heißen, beginnen stets mit einer kurzen
     Biografie samt Foto, in der außer der Karriere auch die Familienverhältnisse des Verstorbenen rekonstruiert werden – was bei
     den kinderreichen und weit verzweigten Familien ernsthafte Recherchearbeit bedeutet. Deren Ergebnisse werden akribisch dokumentiert
     und füllen etliche Zeilen.
    »Das Schreiben und Lesen von Nachrufen ist für Isländer ein bisschen wie eine nationale Obsession«, sagt der Anthropologe
     Arnar Árnason, der die Tradition der Nachrufe erforschte. Etwa ein Fünftel der Bevölkerung liest täglich die Erinnerungen
     an seine Landsleute. Kenne ich den Verstorbenen? Oder einen der Verwandten? In einer so eng vernetzten Gesellschaft passiert
     es oft, dass der Leser gemeinsame Bezüge herstellen kann. Manche Nachrufe sind wie nüchterne Biografien formuliert, viele
     als intime Briefe an die Verstorbenen. Nur, dass alle an der Trauer und dem Schicksal der anderen teilhaben können. »Zeitung
     der Toten« wird ›Morgunblaðið‹ daher von einigen genannt. »Unsere Zeitung ist wie ein Akkordeon«, sagt Stefán Ólafsson, der
     die Minningar-Redaktion betreut, »je mehr Menschen sterben, desto umfangreicher ist die nächste Ausgabe.«
    Die Würdigungen erscheinen am Tag der Beerdigung oder am Tag danach. Es kann sein, dass bis zu 35   Menschen beerdigt werden, dann lassen gut 250   Nachrufe den Umfang der Zeitung anschwellen. In manchen Ausgaben füllen die

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