Alles ganz Isi - Islaendische Lebenskunst fuer Anfaenger und Fortgeschrittene
oft ein alter Pick-up, an dessen Heck der handgemalte Schriftzug »Kreppan«, übersetzt
»die Krise«, zu lesen ist. Und ein Porschefahrer besorgte sich das Autokennzeichen »2007«.
Für manche hat die Krise auch etwas Positives. Denn die Isländer besinnen sich wieder stärker auf die Familie. 3 3-Jährige ziehen kurzfristig bei ihren Eltern ein, weil sie sich die eigene Wohnung nicht mehr leisten können, andere finden auf der
Couch des Bruders einen Platz zum Schlafen. Die Isländer verzichten in der ersten Zeit nach dem Crash zwar nicht auf den Besuch
in Cafés und Bars, aber sie laden ihre Freunde öfter zu sich nach Hause ein. Manche bauen Gemüse in kleinen Gewächshäusern
an, die internationalen Medien berichten viel von den Strickclubs, in denen sich vor allem Frauen treffen, um Pullis, Socken
und Handschuhe zu stricken. Das niedliche Island. Und so klischeehaft es klingen mag, es ist tatsächlich so, dass die Isländer
in Krisenzeiten zusammenrücken. Sie gehen gemeinsam ins Theater, ins Schwimmbad, Eltern verbringen mehr Zeit mit ihren Kindern
– nicht nur die, die arbeitslos geworden sind. Befragungen haben sogar ergeben, dass Kinder seit der Krise glücklichersind als zuvor. Die Ereignisse machten viele Isländer nachdenklich und erinnerten sie an die wesentlichen Werte. »Wir sind
trotz der Krise immer noch ein reiches Land«, sagt Halldór, der Autor von ›Wir sind alle Isländer‹, »denn wir haben eine gute
Bildung, unsere Kultur und die Familie.« 2009 verzeichnete die Geburtenrate einen Rekord.
Im selben Jahr gründete Guðjón Már Guðjónsson das »Ministerium der Ideen«, bei dem jeder seine Geschäftsideen vortragen kann
und sie mit der Hilfe anderer gemeinsam entwickelt. Der 3 9-Jährige hatte schon mit 17 seine erste Softwarefirma, war zwischendurch auch mal pleite, ist Mitbegründer und Geschäftsführer einer
Telekommunikationsfirma und nutzt seine Erfahrung nun, um auch anderen ein Forum zu bieten. Das Ministerium befindet sich
im Hugmyndahús, dem »Haus derIdeen«. In einem alten Fabrikgebäude, wo bis zum Finanzcrash teure Designer-Möbel verkauft wurden, haben jetzt junge Designer,
Start-ups und Künstler ihre Büros. Das Hugmyndahús liegt nahe des Hafens und wird von der Universität Reykjavík und der Isländischen
Kunstakademie finanziert. Anfangs konnten die Jungunternehmer die Arbeitsfläche umsonst nutzen, nun kostet sie vierzig Euro
pro Monat.
»Haus der Ideen« oder Hugmyndahús
Einmal über alles reden
In den Räumen des Hugmyndahús wurde auch ein vielleicht weltweit einzigartiges Experiment geplant, das an einem Wochenende
im November 2009 stattfand: das Þjóðfundur, ein»Treffen der Nation«. Dazu waren 1200 zufällig aus dem Nationalregister ausgewählte Isländer eingeladen, die einen Querschnitt
der Bevölkerung bilden – die jüngste Teilnehmerin war 17, der älteste 88. Außerdem noch 300 Mitglieder von Arbeiterbewegungen, Umweltgruppen und anderen Interessenverbänden. Immerhin 1231 Teilnehmer erschienen tatsächlich am frühen Morgen in der Reykjavíker Sporthalle Laugardalshöllin.
Andri Snær beim »Treffen der Nation« am vorderen Tisch (zweiter von links)
Ihre Aufgabe an diesem Tag: einmal über alles reden! Das Volk will sich selbst überlegen, wie es wieder aus der Krise herauskommt,
will Ziele für den Neuanfang definieren und eine Zukunftsvision entwerfen. Die Ergebnisse sollen allen gehören. Der geschäftstüchtige
Guðjón Már hatte sich das gemeinsam mit Bürgerinitiativen ausgedacht, Popsängerin Björk warb ebenso für das Treffen wie die
Umweltministerin.
Unter den Teilnehmern sind an dem Tag auch fünf Minister. Als der links-grüne Finanzminister Steingrímur J. Sigfússon die Halle betritt, klopft ihm eine Organisatorin auf die Schulter und sagt: »Heute musst du nichts kontrollieren,
heute kannst du ganz auf dein Herz hören!« Er lächelt kurz und geht dann an den ihm zugewiesenen Tisch. Natürlich ohne Leibwächter,
so etwas gibt es nicht in einem Staat wie Island. Viele Isländer schätzen Steingrímur.
Es werden keine langen Reden auf der Bühne gehalten, sondern nur die Gespräche an den 150 Tischen. Bis zu neunt sitzen sie dort jeweils und diskutieren zunächst über die großen Werte für das kleine Island. Damit
alle gleichberechtigt zu Wort kommen, leitet jeweils eine weitere Person die Diskussion. (Im Hugmyndahús hatten sie das sogar
vorher extra
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