Alles ganz Isi - Islaendische Lebenskunst fuer Anfaenger und Fortgeschrittene
geprobt.) Über jedem Tisch baumelt an einem langen Band ein weißer Luftballon mit der Tischnummer, das Kordelende
ist um einen Lavastein gewickelt. Drum herum breiten die Teilnehmer Zettel aus, auf denen sie ihre Ideen festhalten. »Familie«
und »Nachhaltigkeit«liest man bei Tisch A41, an dem der Autor und Umweltaktivist Andri Snær Magnason seine Vorschläge einbringt. Zur Gruppe gehören
auch ein Arbeiter aus einer Aluminiumfabrik und ein Farmer. Eigentlich sollten die Teilnehmer nicht sagen, was sie beruflich
machen, um Vorurteile zu vermeiden. Die meisten reden dann doch über ihre Arbeit, sofern sie ihren Job noch haben.
Am Ende des Vormittags werden alle Vorschläge von den Tischen eingesammelt und ausgewertet. Die wichtigsten Werte projizieren
die Veranstalter auf Leinwände: Heiðarleiki – Ehrlichkeit, sieht man dort an erster Stelle. »Vor der Finanzkrise hätte das sicherlich nicht ganz oben gestanden«, sagt
Andri Snær. Danach folgen die Werte Gleichheit, Respekt und Gerechtigkeit. In den kurzen Pausen schlendern die Teilnehmer
und freiwilligen Helfer durch die Reihen, viele kennen sich, sind miteinander verwandt. Eine kleine Gesellschaft wie Island
hat Vorteile, denn die Vernetzung ist stärker. »Doch das kann auch zu einem korrupten System führen, in dem Verwandte oder
Freunde bevorzugt werden«, warnt Andri Snær.
So war es bei den großen isländischen Banken, die pleitegingen. Der Staat hatte sie nicht retten können: Ihre Schulden betrugen
das Zehnfache des Staatshaushaltes. »Wir müssen die Risiken einer kleinen Gesellschaft vermeiden und sie in Vorteile umwandeln«,
sagt der Finanzminister Steingrímur. »Jeder Einzelne ist wichtig.« Nach ein paar Snacks und dem Auftritt eines Frauenchors,
der etliche im Saal zu Tränen rührt, diskutieren die Teilnehmer am Nachmittag über neun Themen, die als wichtig definiert
wurden. Dazu zählen Gleichheit und die Wirtschaft. »Wir überlegen, wie man neue Jobs schaffen kann«, sagt Eva Sigurbjörnsdóttir.
Die 5 9-Jährige ist extra aus Djúpavík angereist, einem winzigen Ort in den entlegenen Westfjorden: »Ichhabe mich gefreut wie ein Kind an Weihnachten, dass ich ausgewählt wurde.« Wer keine Einladung bekam, konnte das Þjóðfundur
von zu Hause aus live im Internet verfolgen. Eva schätzt den Kampfgeist in ihrer Gruppe, Grundsätzliches anzupacken. Zugleich
hofft sie darauf, ein recht konkretes Problem lösen zu können: In diesem Winter soll die einzige Straße zu ihrem Dorf nicht
mehr geräumt werden, wenn sie zugeschneit ist, weil es an Geld fehlt.
Die Nationalversammlung bringt wenig mehr als hehre Absichten hervor, und doch sind viele der Teilnehmer und 300 freiwilligen
Helfer begeistert. Sie haben Mut geschöpft. Beim Schlürfen der heißen Kjötsúpa, Fleischsuppe, am frühen Abend beschließen
einige, sich wieder zu treffen, um in kleiner Runde weiterzudiskutieren. »Die Nation gibt nicht auf, das spürt man«, sagt
der Finanzminister. »Ich bin jetzt optimistischer, als ich es noch am Morgen war.« Am nächsten Tag lästerten einige Medien
über das Event: 1500 Menschen treffen sich und das Ergebnis ist Ehrlichkeit. Wie überraschend!, hieß es zuweilen, doch die Initiatoren störten
Kommentare wie diese kaum.
Nach dem ersten Þjóðfundur organisierten auch andere Institutionen kleinere Versammlungen an runden Tischen, die Kreativen
Islands diskutierten zum Beispiel im Museum Hafnarhús über die Zukunft der Kunst. »Unsere Vision ist, dass es jedes Jahr ein
Þjóðfundur gibt«, sagte Mitinitiator Guðjón Már damals. Und tatsächlich wagte man sich an ein ähnlich großes Projekt. 2010
ging es um die Erneuerung der isländischen Verfassung. Wieder konnten ausgewählte Bürger an runden Tischen ihre Meinung kundtun.
»Es stärkt den Zusammenhalt, wenn jeder gleichberechtigt wahrgenommen wird«, sagt einer der Teilnehmer.
Eine Grassroot-Initiative, die auf den gleichen Werten wie das Nationentreffen beruht, ist die »Toppstöðin«, die Top-Station.
In einem ehemaligen Reykjavíker Kraftwerk arbeitet eine Gruppevon Architekten, Designern und Handwerkern zusammen. Das Grundstück gehört dem staatlichen Energiekonzern Landsvirkjun, über
zwanzig Jahre stand das Wasserkraftwerk am lachsreichen Elliðaá-Fluss leer. In den ehemaligen Büros haben sie sich nun kleine
Werkstätten eingerichtet, die riesige Halle des alten Kraftwerkes und die alten Maschinen
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