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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Leben, dass ich mit auf der Bühne stehe, Charles. Das erste Mal, dass ich den Tod sehe, Gevatter Tod. Wie hieß das doch gleich, was ihr im Französischunterricht gelernt habt, die Lehrer haben das geliebt, wie hieß das noch mal?«
    »Personifizierung?«
    »Nein, es klang vornehmer.«
    »Allegorie?«
    »Ja, genau. Ich allegorisiere ihn. Ich sehe ihn vor mir, wie er mit seinem Totenkopf und seiner verdammten Sense durch die Gegend streift. Ich sehe ihn. Spüre ihn. Wenn ich meinen Dienst antrete, rieche ich ihn in den Fluren, und oft passiert es mir, dass ich erschreckt herumfahre, weil ich ihn hinter mir höre und ...«
    Ihre Augen glänzten.
    »Glaubst du, ich werde allmählich verrückt? Glaubst du, ich dreh allmählich durch, ich auch?«
    »Nein.«
    »Und ganz besonders schrecklich ist, dass jetzt noch was Neues dazukommt: die Scham. Die Krankheit der Schande. Arsch oder Drogen. Die Einsamkeit. Tod und Einsamkeit. Die Familie, die nicht mehr kommt, die komplizierten Wörter, um den bescheuerten Eltern, die immer noch an der Bettwäsche ihrer Kinder schnüffeln, bloß keinen reinen Wein einzuschenken. Ja, Frau Soundso, es ist eine Lungenentzündung, nein, Frau Soundso, sie ist unheilbar. Ja, ja, Sie haben recht, Herr Soundso, man hat den Eindruck, dass noch andere Organe in Mitleidenschaft gezogen sind. Messerscharf geschlossen, wie ich sehe. Wie oft wollte ich losbrüllen, sie am Kragen packen und schütteln, bis ihre Scheißvorurteile endlich von ihnen abfallen und auf den Boden klatschen, zu den Füßen ihres – ihres was? Dessen, was ihnen von ihrem Kind noch bleibt. Wie? Es hat nicht mal mehr einen Namen. Diese Knochengestalten, die nicht mehr die Kraft haben, die Augen zu schließen, um das alles nicht weiter sehen zu müssen ...«
    Sie senkte den Kopf. »Was soll das alles, warum setzt man Kinder in die Welt, wenn sie nicht das Recht haben, dir von ihrer Liebe zu erzählen, wenn sie groß sind, he?«
    Sie schob ihren Teller zurück. »Und was bleibt am Ende? Was bleibt uns, wenn wir nicht mehr über die Liebe und die Lust reden? Unsere Gehaltszettel? Die Wettervorhersage?«
    Wie sie sich ereiferte.
    »Kinder sind doch das eigentliche Leben, Scheiße, Mann! Und nur weil wir gebumst haben, sind sie überhaupt da, oder? Uns kann doch egal sein, welches Geschlecht in ihren Papieren steht! Zwei Jungs, zwei Mädchen, drei Jungs, eine Nutte, ein Dildo, eine Puppe, zwei Peitschen, drei Handschellen, tausend Phantasien, wo ist das Problem? Wo? Es ist doch Nacht, oder? Und nachts ist es dunkel! Die Nacht ist heilig! Und auch tagsüber ist es – ist es in Ordnung.«
    Sie versuchte zu lächeln und schenkte sich zwischen jedem Fragezeichen nach. »Du siehst, zum ersten Mal in meinem Berufsleben bin ich – bin ich nutzlos.«
     
    Ich berührte ihren Ellbogen. Ich hätte sie gern in den Arm genommen, ich ...
    »Sag das nicht. Wenn ich im Krankenhaus sterben müsste, würde ich es gern in –«
    Sie unterbrach mich rechtzeitig. Bevor ich alles ein weiteres Mal versaute.
    »Hör auf. Wir reden aneinander vorbei. Du siehst einen großen blassen jungen Mann vor dir, der die Arme nach einer verdammten Allegorisierung ausstreckt, während ich von Dünnschiss, Herpes und Nekrose rede. Und als ich vorhin ›wie ein Straßenköter‹ gesagt habe, war ich von der Wirklichkeit weit entfernt. Hunden verabreicht man nämlich, wenn sie zu sehr leiden, eine Spritze.«
     
    Unsere Tischnachbarn warfen ihr komische Blicke zu. Ich war daran gewöhnt. Das war seit zwanzig Jahren so. Anouk redete immer zu laut. Lachte zu schnell. Sang zu hoch. Tanzte zu früh oder ... Anouk ging immer zu weit, und die Leute tuschelten. Lassen wir das. Normalerweise hätte sie sie angemacht und ihr Glas gehoben. »Auf die Liebe!«, hätte sie dem braven Familienvater zugerufen oder: »Auf den Beischlaf!« Oder Schlimmeres, das hing von der Anzahl der Gläser ab, die sie zuvor gehoben hatte, aber an diesem Abend geschah nichts dergleichen. An diesem Abend hatte das Krankenhaus gewonnen. Die Gesunden interessierten sie nicht. Retteten sie nicht mehr.
     
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich dachte an Alexis, den sie seit Monaten nicht gesehen hatte. Der den Boden unter den Füßen verloren hatte, an seine erweiterten Pupillen. An diesen Sohn, der ihr vorwarf, als Weißer auf die Welt gekommen zu sein, und der wie Miles, Parker und all die anderen leben wollte.
    Dessen Gesicht einfiel. Der mit seinen Kräften am Ende war. Der auf der Suche nach sich

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