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Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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klar.« Er holte sein Kleingeld heraus. »Das weiß ich. Und es wird immer weniger. Aber in deinem Alter hatte er wenigstens schon ein paar fantastische Sachen gemacht.«
    Diese Worte hatte er so leise ausgesprochen, dass der andere sie auch hätte überhören können. Hatte ihm auch schon den Rücken zugekehrt. Aber er hatte sie gehört. Hatte ein gutes Gehör, der Dreckskerl. Egal, er schob sein Glas schon über die Theke ...
     
    Er bückte sich, um Mathildes Radiergummi aufzuheben, und als er wieder an die Oberfläche kam, wusste er, dass er ihn anrufen würde.
    Chet Baker hatte sich einige Jahre nach diesem Konzert aus einem Hotelfenster gestürzt. Passanten waren über ihn hinweggestiegen, in der Annahme, es handele sich um einen schlafenden Penner, und so hatte er die Nacht mit lauter Knochenbrüchen auf einem Bürgersteig in Amsterdam verbracht.
    Und sie?
    Wollte es wissen. Wollte es endlich verstehen.
    Verstehen.
     
    »Charles?«
    »...«
    »Hallo! Hallo! Tower an Charlie Bravo, hören Sie mich?«
    »Sorry. Okay. Weiter geht’s? Was ist das Gegenteil eines in Bewegung befindlichen Körpers?«
    »He?«
    »Was?«
    »Ich kann deine Musik nicht mehr hören ...«
    Stellte lächelnd den Ton ab. Er hatte erreicht, was er wollte. Ende der Improvisation.
    Er würde anrufen.
     
    *
     
    Als Laurence mit ihrer Freundin Maud vom Hamam zurückkam, führte Charles sie alle in eine Pizzeria an der Straßenecke aus, und sie feierten ihren Geburtstag noch einmal zu den Klängen von Come Prima .
    Steckten eine Kerze in ihr Tiramisu, und sie rückte ihren Stuhl näher an seinen.
    Fürs Foto.
    Für Mathilde.
    Für ein gemeinsames Lächeln auf dem winzigen Display ihres Handys.
     
    Da er am nächsten Morgen um sieben Uhr zum Flieger musste, stellte er seinen Wecker auf fünf und rieb sich das Gesicht.
    Schlief wenig und schlecht.
    Man hat nie herausgefunden, ob er sich aus dem Fenster gestürzt hatte oder ob er gefallen war.
    Natürlich fanden sich auf dem Tisch noch Heroinspuren, doch als man seinen fluguntauglichen Körper endlich umdrehte, hielt er den Fenstergriff noch in der Hand.
     
    Er schaltete um vier Uhr dreißig seinen Wecker aus, rasierte sich, zog die Tür leise hinter sich ins Schloss und hinterließ keine Nachricht auf dem Küchentisch.
     
    Woran war Anouk gestorben? Hatte sie sich ebenfalls über einen widerspenstigen Fenstergriff hergemacht, um sie alle vor Ärger zu bewahren?
    Sie hatte so viele Menschen sterben sehen. Da kam es auf ein Fenster oder eine Unannehmlichkeit mehr oder weniger nicht mehr an. Vor allem damals, in der großen Epoche des New Morning, Anfang der achtziger Jahre, als Aids mit voller Wucht zuschlug und junge, gesunde Leute tötete.
     
    Sie hatten in dieser trüben Stimmung zusammen zu Abend gegessen, und er hatte zum ersten Mal gesehen, dass sie zweifelte.
    »Das Schlimmste ist, dass man es ihnen sagen muss ...« Ihr versagte schon die Stimme.
    »... wegen der Ansteckungsgefahr, verstehst du? Wir sind verpflichtet, ihnen zu sagen, dass sie elendig krepieren werden, wie Straßenköter, und wir nichts für sie tun können. Das ist sogar das Erste, was wir ihnen sagen. Damit sie dafür sorgen, dass sie niemanden mehr umbringen, wenn sie wieder draußen sind. Ja, du wirst krepieren, aber he, verlier bloß keine Zeit. Sag schnell all denen Bescheid, die du geliebt hast. Damitsie gleich wissen, dass auch sie dran glauben müssen. Los! Mach schon! Wir sehen uns dann nächsten Monat wieder, okay?
    Und das, verstehst du, ist jedes Mal wie das erste Mal. Und wir sitzen alle im selben Boot. Die großen Herren Oberärzte genauso wie die kleinen Lichter. Alle werden dahingerafft. Ah, da geht er. Verfolgt uns, der Schurke. Kein Pardon. Allesamt unfähig. Weißt du? Ich habe schon jede Menge Augen zugedrückt, und bis jetzt, na ja, das war mein Leben. Du kennst mich ja. Und wenn ich auch immer die Zähne zusammengebissen habe, sobald die Leiche im Kühlhaus war, habe ich die Schwesternhelferin gerufen, und wir haben das Zimmer wieder hergerichtet. Ja, wir haben das Bett für den nächsten Patienten frisch bezogen, und dann haben wir auf den nächsten Patienten gewartet, und wenn er kam, haben wir uns um ihn gekümmert. Wir haben ihm zugelächelt und ihn gepflegt. Wir haben ihn gepflegt , hörst du? Genau darum hatten wir uns schließlich für diesen schwachsinnigen Job entschieden ...
    Aber jetzt? Heute? Was sollen wir tun?«
    Sie schnorrte eine Zigarette bei mir. »Es ist das erste Mal in meinem

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